Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
2 [101]
Der Rückschluß vom Werk auf den Schöpfer: die furchtbare Frage, ob die Fülle oder die Entbehrung, der Wahnsinn des Entbehrens zum Schaffen drängt: der plötzliche Blick dafür, daß jedes romantische Ideal eine Selbstflucht, eine Selbst-Verachtung und Selbst-Verurtheilung dessen ist, der es erfindet.
Es ist zuletzt eine Sache der Kraft: diese ganze romantische Kunst könnte von einem Überreichen und willensmächtigen Künstler ganz ins Antiromantische—oder um meine Formel zu brauchen—ins Dionysische umgebogen werden, ebenso wie jede Art Pessimismus und Nihilismus in der Hand des Stärksten nur ein Hammer und Werkzeug mehr wird, mit dem man sich ein neues Paar Flügel zulegt.
Ich erkannte mit Einem Blick, daß Wagner zwar sein Ziel erreicht, aber nur so wie Napoleon sein Moskau erreicht hatte—an jeder Etappe war so viel verloren, unersetzbar verloren, daß gerade am Ende des ganzen Aufmarsches und scheinbar im Augenblick des Siegs das Schicksal schon entschieden war. Verhängnißvoll die Verse Brünnhildes—so kam Napoleon nach Moskau (R. Wagner nach Bayreuth—)
Sich mit keinen krankhaften und von vornherein besiegten Mächten verbünden —
Hätte ich mir selber mehr getraut: mir hat die Wagner[sche] Unfähigkeit zu gehn (noch mehr zu tanzen—und ohne Tanz giebt es für mich keine Erholung und Seligkeit) immer Noth gemacht.
Das Verlangen nach vollständigen Passionen ist verrätherisch: wer ihrer fähig ist, verlangt den Zauber des Gegentheils d.h. der Skepsis. Die von Grund aus Gläubigen haben ihre gelegentliche Wohlthat und Erholung in der Scepsis.
Wagner von den Entzückungen redend, die er dem christlichen Abendmahle abzugewinnen wisse: dies entschied bei mir, er galt mir als besiegt.— Es kam hinzu, daß ein Mißtrauen bei mir erwachte, ob er nicht für nützlich hielte zum Zweck seiner neuen Einbürgerung in Deutschland etwas den Christen und Neubekehrten zu spielen: dies Mißtrauen schadete ihm noch mehr bei mir als der Verdruß, auf einen alt werdenden Romantiker Hoffnungen gesetzt zu haben, dessen Kniee schon müde genug zum Niederfallen vor dem Kreuze waren.