Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christenthum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jene ander[n] Versuche seiner Rechtfertigung, daß, selbst wenn es ein Irrthum wäre, man zeitlebens doch den großen Vortheil und Genuß dieses Irrthums habe: es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrecht erhalten werden solle,—also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonistische Wendung, der Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der Furcht. Thatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christenthum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christenthum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen wollen die Kraft hat, noch zum Pascalismus, zu tiefe[r] grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des “Vielleicht-Verurtheilten.” Aber ein Christenthum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines “Gottes am Kreuze” überhaupt nicht nöthig: weshalb im Stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.