Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Ungläubige und Gottlose, ja!—aber ohne jene Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus dem Unglauben einen Glauben, einen Zweck, oft ein Martyrium zurecht macht: wir sind abgesotten und kalt geworden in der Einsicht, daß es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach vernünftigem, barmherzigem, menschlichem Maaße; wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist unmoralisch, ungöttlich, unmenschlich—wir haben sie allzulange im Sinne unserer Verehrung interpretirt. Die Welt ist nicht das werth, was wir geglaubt haben: und der letzte Spinnefaden von Trost, den Schopenhauer gesponnen hat, ist von uns zerrissen worden: eben das sei der Sinn der ganzen Geschichte, daß sie hinter ihre Sinnlosigkeit kommt und ihrer selber satt wird. Dies Am-Dasein-Müde-werden, dieser Wille zum Nicht-mehr-wollen, das Zerbrechen des Eigenwillens, des Eigenwohles, Selbstl[osigkeit] (als Ausdruck dieses umgekehrten Willens)—dies und nichts Anderes wollte Schopenhauer mit der höchsten Ehre geehrt wissen: er hieß es Moral, er dekretirte, daß alles selbstlose Handeln — — — er glaubte selbst der Kunst ihren Werth zu sichern, indem er in den indifferenten Zuständen, welche sie schafft, Vorbereitungen für jene gänzliche Loslösung und Sattheit des Ekels erkennen möchte.
— aber wären wir wirklich in Hinsicht auf den Anblick einer unmoralischen Welt Pessimisten? Nein, denn wir glauben nicht an die Moral — — wir glauben, daß Barmherzigkeit, Recht, Mitleid u. Gesetzlichkeit bei weitem überschätzt sind, daß ihr Gegentheil verleumdet worden ist, daß in Beidem, im Übertreiben und Verleumden, in der ganzen Anlegung des moral[ischen] Ideals und Maaßstabes eine ungeheure Gefährdung des Menschen lag. Vergessen wir auch den guten Ertrag nicht: das Raffinement der Auslegung, der moral[ischen] Vivisektion, der Gewissensbiß hat die Falschheit des Menschen aufs höchste gesteigert und ihn geistreich gemacht.
An sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu thun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen R[eligion] sind beide wesentlich moralische Religionen, solche, die Vorschriften darüber geben, wie gelebt werden soll und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen.