Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Zur “Geburt der Tragödie.”
Das “Sein” als die Erdichtung des am Werden Leidenden.
Ein Buch aus lauter Erlebnissen über ästhetische Lust- und Unlustzustände aufgebaut, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde. Zugleich ein Romantiker-Bekenntniß, endlich ein Jugend-Werk voller Jugend-Muth und Melancholie. Der Leidendste verlangt am tiefsten nach Schönheit—er erzeugt sie.
Psychologische Grunderfahrungen: mit dem Namen “apollinisch” wird bezeichnet das entzückte Verharren vor einer erdichteten und erträumten Welt, vor der Welt des schönen Scheins als einer Erlösung vom Werden: auf den Namen des Dionysos ist getauft, andererseits, das Werden aktiv gefaßt, subjektiv nachgefühlt, aus wüthender Wollust des Schaffenden, der zugleich den Ingrimm des Zerstörenden kennt. Antagonismus dieser beiden Erfahrungen und der ihnen zu Grunde liegenden Begierden: die erstere will die Erscheinung ewig, vor ihr wird der Mensch stille, wunschlos, meeresglatt, geheilt, einverstanden mit sich und allem Dasein: die zweite Begierde drängt zum Werden, zur Wollust des Werden-machens d.h. des Schaffens und Vernichtens. Das Werden, von innen her empfunden und ausgelegt, wäre das fortwährende Schaffen eines Unbefriedigten, Überreichen, Unendlich-Gespannten und Gedrängten, eines Gottes, der die Qual des Seins nur durch beständiges Verwandeln und Wechseln überwindet:—der Schein als seine zeitweilige, in jedem Augenblick erreichte Erlösung; die Welt als die Abfolge göttlicher Visionen und Erlösungen im Scheine.— Diese Artisten-Metaphysik stellt sich der einseitigen Betrachtung Schopenhauer’s entgegen, welcher die Kunst nicht vom Künstler aus, sondern vom Empfangenden aus allein zu würdigen versteht: weil sie Befreiung und Erlösung im Genuß des Nicht-Wirklichen mit sich bringt, im Gegensatz zur Wirklichkeit (die Erfahrung eines an sich und seiner Wirklichkeit Leidenden und Verzweifelnden)—Erlösung in der Form und ihrer Ewigkeit (wie auch Plato es erlebt haben mag: nur daß dieser auch im Begriff schon den Sieg über seine allzu reizbare und leidende Sensibilität genoß) Dem wird die zweite Thatsache, die Kunst vom Erlebniß des Künstlers aus, entgegengestellt, vor Allem des Musikers: die Tortur des Schaffenmüssens, als dionysischer Trieb.
Die tragische Kunst, an beiden Erfahrungen reich, wird als Versöhnung des Apoll und Dionysos bezeichnet: der Erscheinung wird die tiefste Bedeutsamkeit geschenkt, durch Dionysos: und diese Erscheinung wird doch verneint und mit Lust verneint. Dies ist gegen Schopenhauer’s Lehre von der Resignation als tragische Weltbetrachtung gekehrt.
Gegen Wagner’s Theorie, daß die Musik Mittel ist, und das Drama Zweck.
Ein Verlangen nach dem tragischen Mythus (nach “Religion” und zwar pessimistischer Religion) (als einer abschließenden Glocke worin Wachsendes gedeiht)
Mißtrauen gegen die Wissenschaft: obwohl ihr augenblicklich lindernder Optimismus stark empfunden ist. “Heiterkeit des theoretischen Menschen.
Tiefer Widerwille gegen das Christenthum: warum? Die Entartung des deutschen Wesens wird ihm zugeschoben.
Nur aesthetisch giebt es eine Rechtfertigung der Welt. Gründlicher Verdacht gegen die Moral (sie gehört mit in die Erscheinungswelt).
Das Glück am Dasein ist nur möglich als Glück am Schein
Das Glück am Werden ist nur möglich in der Vernichtung des Wirklichen des “Daseins,” des schönen Anscheins, in der pessimistischen Zerstörung der Illusion.
in der Vernichtung auch des schönsten Scheins kommt das dionysische Glück auf seinen Gipfel.