Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Gewöhnliche Fehler der Moral-Historiker:
1. sie zeigen, daß es bei verschiedenen Völkern verschiedene moralische Schätzungen giebt und schließen daraus deren Unverbindlichkeit überhaupt.— Oder sie behaupten irgend einen consensus der Völker, mindestens der civilisirten, in gewissen Dingen der Moral und schließen daraus auf dessen Verbindlichkeit für uns!— Beides ist gleich naiv.
2. sie kritisiren die Meinungen eines Volkes über seine Moral (über deren Herkunft, Sanktion, Vernünftigkeit usw.) und glauben eine Moral selbst kritisirt zu haben, welche mit diesem Unkraut von Unvernunft überwachsen ist.
3. sie stehen selbst unter dem Regiment einer Moral, ohne es zu wissen und thun im Grunde nichts anderes als ihrem Glauben an sie zum Siege zu verhelfen:—ihre Gründe beweisen nur ihren eigenen Willen, daß das und das geglaubt werde, daß das und das durchaus wahr sein solle.
Mit den bisherigen Moral-Historikern hat es wenig auf sich: sie stehen gewöhnlich selbst unter dem Commando einer Moral und thun im Grunde nichts anderes als deren Propaganda zu machen. Ihr gewöhnlicher Fehler ist, daß sie die thörichten Meinungen eines Volkes über seine Moral kritisiren (also über deren Herkunft, Sanktion, Vernünftigkeit) und eben damit die Moral selbst kritisirt zu haben glauben, welche mit diesem Unkraut von Unvernunft überwachsen ist. Aber der Werth einer Vorschrift “du sollst” ist unabhängig von der Meinung über dieselbe, so gewiß der Werth eines Medikaments unabhängig davon ist, ob ich wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denke
Oder wiederum sie behaupten irgend einen consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Dinge der Moral und schließen daraus auf deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und mich: was Beides gleich große Naivetäten sind —