Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Zur Vorrede der “Morgenröthe”
Versuch über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke
Eine Welt, die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist—die sich fortwährend beweist—durch Leitung des Einzelnen und Allgemeinen—: dies die christliche Anschauung, aus der wir Alle stammen.
Durch ein Wachsthum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gezüchteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt worden.
Feinster Ausweg: der Kantsche Kriticismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügte sich, mit einem Mehr von Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen “Ideal” (Gott) die Lücke auszufüllen.
Der Hegelische Ausweg, im Anschluß an Plato, ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns, einer neuen Kraft: der “Geist” selbst ist das sich enthüllende und verwirklichende Ideal, im “Prozeß,” im “Werden” offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben—, also das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,
1) Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar—Hintersinn der erkenntnißtheoretischen Bewegung
2) Gott ist nachweisbar, aber als etwas Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen—Hintersinn der historisirenden Bewegung
Aber derselbe historische Sinn, in die Naturgeschichte übertretend, hat — — —
Man sieht: es ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht oder warum es nicht nachweisbar im Kleinen und Großen ist.
Das Ideal des Weisen in wiefern grundmoralisch bis her? - - -
Es macht den größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem Verlangen heraus diesen Nothstand als Nothstand fühlt oder ob man ihn mit der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination gerade noch als Problem erreicht ....
Abseits von der religiös-philosophischen Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Socialismus, der Demokratismus) kritisirt die Herkunft der moralischen Werthschätzungen, aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivetät, als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionirende Gott fehlt. Das “Jenseits” absolut nothwendig, wenn der Glaube an Moral aufrecht erhalten werden soll.)
Grundproblem: woher diese Allgewalt des Glaubens? Des Glaubens an die Moral?
(—der sich auch darin verräth, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens zu Gunsten der Moral falsch interpretirt werden: trotz Kenntniß der Thierwelt und Pflanzenwelt.
die “Selbsterhaltung,” darwinistische Perspektive auf Versöhnung altruistischer und egoistischer Principien.
(Kritik des Egoismus, z.B. Larochefoucauld)
Mein Versuch, die moralischen Urtheile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißrathens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachsthumsbedingungen verräth: eine Interpretation’s-Weise vom Werthe der Astrologie. Vorurtheile, denen Instinkte souffliren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen wie Jugend oder Verwelken usw.)
Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urtheile sind Anzeichen vom Verfall, vom Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung des Pessimismus.
Was bedeutet es, daß wir einen Widerspruch in das Dasein hineininterpretirt haben?— Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen anderen Werthschätzungen stehen commandirend jene moralischen Werthschätzungen. Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? Und welchen Werth haben dann Erkenntniß usw. usw.???
Mein Hauptsatz: es giebt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moral[ische] Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs.