Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Meine Behauptung: daß man die moralischen Werthschätzungen selbst einer Kritik unterziehn muß. Daß man dem moralischen Gefühls-Impuls mit der Frage: warum? Halt gebieten muß. Daß dies Verlangen nach einem “Warum?,” nach einer Kritik der Moral, eben unsere jetzige Form der Moralität selbst ist, als ein sublimer Sinn der Redlichkeit. Daß unsere Redlichkeit, unser Wille, uns nicht zu betrügen sich selbst ausweisen muß: “warum nicht?”— Vor welchem Forum?— Der Wille, sich nicht betrügen [zu] lassen, ist anderen Ursprungs, eine Vorsicht gegen Überwältigung, Ausbeutung, ein Nothwehr-Instinkt des Lebens.
Das sind meine Forderungen an euch—sie mögen euch schlecht genug zu Ohren gehen—: daß ihr die moralischen Werthschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: “warum Unterwerfung?” Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem “Warum?,” nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Rechtschaffenheit, die euch und eurer Zeit Ehre macht.