Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [101-210]
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Und auch heute noch geben die Philosophen, ohne daß sie es wissen, den stärksten Beweis, wie weit diese Autorität der Moral reicht. Mit allem ihrem Willen zur Unabhängigkeit, mit ihren Gewohnheiten oder Grundsätzen des Zweifels, selbst mit ihrem Laster des Widerspruchs, der Neuerung um jeden Preis, des Hochmuths von jeder Höhe—was wird aus ihnen, sobald sie über “du sollst” und “du sollst nicht” nachdenken? Es giebt sofort gar nichts Bescheideneres auf Erden: die Circe Moral hat sie eben angehaucht und verzaubert! Alle diese Stolzen und Einsam-Wandelnden!— Nun sind es mit einem Mal Lämmer, nun wollen sie Heerde sein. Zunächst wollen sie allesammt ihr “du sollst” und “du sollst nicht” mit Jedermann gemein haben,—erstes Zeichen der preisgegebenen Unabhängigkeit. Und was ist ihr Kriterium einer moralischen Vorschrift? Alle sind darüber einmüthig: deren Gemeingültigkeit, ihr Absehen von der Person. Dies heiße ich “Heerde.” Darauf freilich trennen sie sich: denn jeder will mit seiner besten Kraft der M[oral] zu Diensten sein. Die meisten von ihnen verfallen darauf “die Moral zu begründen,” wie man sagt, nämlich sie mit der Vernunft zu verschwistern und zu vereinbaren, womöglich bis zur Einheit; die Feineren finden umgekehrt in der Unbegründbarkeit der Moral das Anzeichen und Vorrecht ihres Ranges, ihres der Vernunft überlegenen Ranges; andere werden sie historisch ableiten wollen (etwa mit den Darwinisten, welche das Hausmittelchen für schlechte Historiker erfunden haben “erst Nützlichkeit und Zwang, dann Gewohnheit, endlich Instinkt, sogar Vergnügen”), wieder andere widerlegen diese Ableitungen und leugnen überhaupt jede historische Ableitbarkeit der Moral, und dies ebenfalls zu Ehren ihres Ranges, ihrer höheren Art und Bestimmung: alle aber sind einmüthig in der Hauptsache “die Moral ist da, die Moral ist gegeben!,” sie glauben alle, redlich, unbewußt, ungebrochen an den Werth dessen, was sie Moral nennen, das heißt, sie stehen unter deren Autorität. Ja! Der Werth der Moral! Wird man es erlauben, daß hier Jemand das Wort nimmt, der gerade über diesen Werth Zweifel hat? Und nur in dieser Hinsicht sich auch um ihre Ableitung, Ableitbarkeit, psychologische Möglichkeit und Unmöglichkeit kümmert?