Sommer 1875 11 [1-60]
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24. Die vor-Wagnerische Musik hatte einen episch-lyrischen Charakter; eine Stimmung z. B. eine andächtige bußfertige, heitere usw. wollte sich aussprechen; eine gewisse Gleichartigkeit der Formen und längere Dauer setzten endlich den Hörer in diese Stimmung. Die Gesammtform eines Stimmungsbildes bekam gewisse Gesetze von Anfang und Schluß, Vermeidung von Langeweile und Monotonie bestimmte die Länge. Nun kamen die Contrastwirkungen der aufeinander folgenden Stimmungen auf und später auch, in demselben Tonstück, der Contrast des Ethos. Sehr häufig ein männliches und ein weibliches Motiv. Das sind alles noch uranfängliche Stufen der Musik. Dabei will sie meistens nur unterhalten, und höchstens rühren: die Stimmungen dürfen nicht zu tief, nicht zu stark sein und die Contraste deshalb auch nicht zu kühn. Allmählich lernte man aber doch eine Menge symbolischer Formen für alle Arten von Stimmungen erfinden. Und nun geschah etwas Neues: man bekam die willkürliche Contrastirung satt und überhaupt die Stimmung, das und seine Gegensätze; während man auf der anderen Seite immer raffinirter wurde in seltenen Stimmungen, in der Zeichnung abnormer Charaktere (blasirter, kindlicher, greisenhafter, nationaler). Beethoven erfand die Sprache der Leidenschaft, nicht mehr der Stimmung: und damit war die Form der Stimmungsmusik unmöglich: nicht mehr ein idyllischer See war jetzt zu malen. Ein innerer dramatischer Vorgang—denn jede Leidenschaft hat einen dramatischen Verlauf—erzwang sich seine Form; vielfach hemmte und störte das überlieferte Thema der Stimmungsmusik, das wie ein steifes Gesetz die Leidenschaft einschnürte. Es war oft ein Widerspruch: das Pathos, das sich in der Art des Ethos aussprechen sollte. Für das Pathos ist die große Form nöthig, um den großen geschwungenen Bogen jeder Leidenschaft wiederzugeben; die Symphonie wurde von Beethoven dafür erkannt, doch noch mit Anlehnung an die Contraste der Zustände; so daß er oft drei vier Stufen aus dem ganzen Verlauf einer Leidenschaft herausnahm und die Linie der ganzen Leidenschaft mehr errathen ließ, dadurch daß er vier Punkte ihrer Flugbahn hinzeichnete. Dadurch entstand für viele Zuhörer eine Entfremdung von der Musik: sie konnten die Flugbahn nicht erkennen, und die Contrastwirkungen der einzelnen Theile waren auch unfaßlich. Und so entstand bei den geringeren Musikern die reine Willkür der Theile und ihrer Folge; der Zusammenhang des Ganzen fehlte, es waren vier Stücke. (So wie Aeschylus vier Punkte aus dem Leben und Mythus herausnahm und später die Stücke selbständig wurden.) Also: die Erfindung der großen Form der Leidenschaft führte, nicht verstanden, zurück auf den Einzelsatz mit subjektivem Inhalt und das Spannungsverhältniß der Theile zu einander hörte ganz auf; nur daß man häufig wieder zur früheren Contrastwirkung zurückgriff. Denn man muß Leidenschaft haben, um sie darstellen, um sie verstehen zu lernen: Musiker, wie Schubert, Schumann Mendelssohn haben nur Ethos, und deshalb ist die nach-Beethovensche Symphonie ein so wunderliches Gebilde. Im Einzelnen stammeln sie die Sprache des Beethovenschen Pathos, das verwirrt den Zuhörer noch mehr. Mittel passen nicht zu der Absicht und die Absicht ist überhaupt nicht klar. Die lange Cdur Symphonie von Schubert ist langweilig, weil die einzelnen Sätze nur scheinbar im Ganzen, in Wahrheit nur im Kleinen, Einzelnen, ihre Berechtigung haben. Das Einzige, was diese Musiker gewirkt haben, ist, daß sie eine Menge von Ausdrucksformen zugänglicher, verbreiteter gemacht haben, besonders auch im Liede.— Beispiel an der neunten Symphonie Beethoven’s: hier giebt der erste Satz den Gesammtton und -Wurf der Leidenschaft und ihres Ganges: das braust immer fort, die Reise durch Wälder Klüfte Ungeheuer: da braust in der Ferne der Wasserfall, da stürzt er in mächtigen Sprüngen hinab, mit einem ungeheuren Rhythmus in seinem Donner. Ruhe auf der Reise, ist der zweite Satz (Selbstbesinnung der Leidenschaft und Selbstgericht), mit Vision einer ewigen Ruhe, welche über alles Wandern und jagen wehmüthig-selig nieder lächelt. Der dritte Satz ist ein Moment aus der höchsten Flugbahn der Leidenschaft: unter den Sternen ist ihr Lauf, unruhig, kometenhaft, irrlichthaft, gespenstisch-unmenschlich, eine Art von Abirrung, die Rastlosigkeit, inneres flackerndes Feuer, ermüdend, quälendes Vorwärtsziehen, ohne Hoffen und Lieben: höhnisch derb mitunter, wie ein nie Ruhe findender Geist herumschweift, auf Gräbern. Und nun der vierte Satz: herzzerschmetternder Aufschrei: die Seele trägt ihre Last nicht mehr, sie hält den ruhelosen Taumel nicht aus, sie wirft selbst die Vision ewiger Ruhe von sich, die in ihr auftaucht, sie knirscht, sie leidet schrecklich. Da erkennt sie ihren Fluch: ihr Alleinsein, ihr Losgelöstsein, selbst die Ewigkeit des Individuums ist ihr nur Fluch. Da hört sie, die einsame Seele, eine Menschenstimme, die zu ihr wie zu allen Einzelnen redet und zwar als zu Freunden spricht und zur Freude der Vielsamkeit auffordert. Das ist ihr Lied. Und nun stürmt das Lied von der Leidenschaft für das Menschliche überhaupt herein, mit seinem eigenen Gange und Fluge: der aber nie so hoch gewesen wäre, wenn nicht die Leidenschaft des nächtlich fortstürmenden einzelnen Vereinsamten so groß gewesen wäre. Es knüpft sich die Mitleidenschaft an die Leidenschaft des Einzelnen an, nicht als Contrast, sondern als Wirkung aus jener Ursache. —
So bei Beethoven. Wagner erfindet nun, nach Beethoven, die Darstellung der verflochtenen Leidenschaften und braucht jetzt das sichtbare Drama zur Verdeutlichung, Wort und Gebärde. Er stellt Menschen gegenüber; er entwindet sich des Subjektiven der Leidenschaft, er stellt nicht mehr sich dar: oder zwar doch sich selbst, aber als Resonanz mehrerer leidenschaftlich handelnder Personen, deren Seelenleben in ihm nachlebt, in dem kunstvollen In- und Nebeneinander. Die Aufgabe ist so hoch, daß die Undeutlichkeit eine große Gefahr ist, und deshalb ist auf Deutlichkeit der Musiksprache Wagner’s ganze Kraft gerichtet.
Er hat erreicht, was noch nie einer erreicht hat: die allerstärkste und deutlichste Sprache des Gefühls. Alle frühere Musik erscheint steif, schwächlich, manierirt, ängstlich. Die unglaubliche Festigkeit und Bestimmung jedes Gefühlsgrades ist bei ihm das Einzige: er hat das innerhalb der Musik gethan, was der Erfinder der Freigruppe innerhalb der Plastik that: darauf ruht seine Dirigentenkraft im Modificiren des Tempo’s; er hat einen gleichsam objektiveren und hart gewordenen Eindruck der zartesten oder wildesten Regungen vor sich, den er trifft, mit zwingender Sicherheit, er schießt immer als Schütze, in’s Herz. Alles ist ihm so individualisirte Leidenschaft, der Sturm und das Feuer hat sie, die ganze Natur lebt und webt, niemals unbestimmt, nie stimmungshaft, sondern wie etwas Wollendes, Begehrendes.— Nun ist das Drama bei ihm das bewegte Leben mehrerer Leidenschaften und ihre Geschichte, gleichsam ein Bündel von Kräften und Feuerzungen, die sich kreuzen, abstoßen, aufflammen, ersterben machen.
Durch die Oper waren viele einzelne Ausdrucksmittel der Leidenschaft erfunden worden und populär verständlich gemacht. Denn es ist nicht nur nöthig, diese Symbolik zu erfinden, sondern sich auch eine verstehende Hörerschaft zu erziehn. Im Concert ist dies am wenigsten geschehn; da herrscht die Affektation der “höheren Kunst” und des höheren Geschmacks. Aber in der mißrathenen dramatischen Unform der Oper wurde viel Verständniß für das Symbolische eingeschmuggelt. Hier wollte man den Effekt und war ehrlich genug dazu, fern von der vornehmen Gleißnerei, welche die “Würde der effektlosen Kunst” vertritt; da bekam man allmählich eine ganze große Summe von Effekten d. h. von verständlichen symbolischen Formen: da konnte nun ein Genie kommen und sich ihrer bemächtigen. Denn keine Form ist so gemein, daß sie nicht in der Hand des Genie’s zum Ausdruck des Höchsten und Edelsten umgedeutet werden könnte.— Von der Seite Schillers her (und Shakespeares) ist das Gefühl für die langathmige Leidenschaft auf der Bühne erzogen worden: ein hoher Grad von Cultur, da das Volk sonst immer nur Stückwerk will und das Ganze und Lange preisgiebt.— Alle diese partiellen Vorbildungen und Vorbereitungen brachten immer ihr eignes Maß von Absurdität und Gelehrtenhaftem mit sich; und der aesthetische Ausdruck, das Schreiben und Reden darüber war ganz ekelhaft. Es gehörte der Blick des Genie’s dazu, daß trotzdem eine Erziehung zum Drama und zur Musik der Leidenschaft da gewesen sei und daß es nur gälte, jetzt einmal alles, was ursprünglich zusammengehörte, aber, historisch, jetzt einzeln angelehrt worden war, wieder zusammenzufügen und den Versuch zu wagen, ob man jetzt das Ganze verstehe. Die ersten Versuche Wagner’s gelangen nur mäßig, ja fast hätte er verzweifeln wollen. Das in Deutschland übliche Kleben am Dogma, am Hergebrachten wandte gegen die neue Gattung alles das ein, daß ihr zu jeder vorher dagewesenen Gattung vieles fehle: man sah die schlechte Oper, die schlechte symphonische Musik, das schlechte Shakespear’sche Drama in dem Werke Wagner’s. Einzelne empfanden die Wirkung, und diese waren für Wagner jetzt das Publikum. Diese lehrte er, sich um die bisherige Aesthetik nicht kümmern. Während er sich seine Zuhörer und Zuschauer entfesselte, entfesselte er immer mehr seine eigene Kraft von allem Angelernten. Das göttliche Gefühl überkam ihn immer mehr, sein Reich gefunden zu haben, wo er Herrscher war. Es geht durch den Tristan ein Wohlgefühl von neuerlangter Meisterschaft, von rücksichtslosem Sagen, was er kann und will, das wohl in keinem Werk der Welt seines gleichen hat. Jetzt erst hat er die große Form (die langathmige Leidenschaft, die vielköpfige Leidenschaft) gefunden; die Angst vor dem Mißverstehen, die ihn bis dahin zwang, das einzelne Stück immer noch zu sehr herauszuheben und zu isoliren (z. B. im Lohengrin), das Publikum gleichsam durch Annäherung an die gewohnte Form zu locken, kurz das Verführen-Wollende, das hat ihn jetzt verlassen. Nichts ist ihm unerträglicher als seine Zuhörer zu verlieren, darin ist er wahrhafter Künstler, der von der beseligenden Welt seines Wesens verständlich reden will; ein Kunstwerk, das sich nicht zu verstehen giebt, ist ein Widerspruch. Denn die Kunst ist eben die Kraft, das wirklich mitzutheilen, was man erlebt hat, weiter nichts!— Nun erkannte er die Schwächen der Mittheilbarkeit des Wort-Dramas als der Musik für sich. Das erstere hat durch den Gedanken das Wort die Gebärde auf das Gefühl zu wirken, gehört also damit in die Rhetorik. Aber nicht immer ist die Leidenschaft beredt, hier muß sie es sein, und zwar weitschweifig. Das Wort ist eine zu verbrauchte und abgenutzte Art sich mitzutheilen, und so muß der Wortdichter die Sprache und den Gedanken ungewöhnlich färben, um so den Ausdruck der Leidenschaft zu finden, geräth aber damit leicht ins Unverständliche; anderseits muß er durch Tiefe der Gedanken und Sentenzen das Ganze heben und geräth so in’s Unwahre, d. h. die Leidenschaft spricht sich wirklich so nicht aus und theilt sich also auch nicht mit. Durch die Verbindung von Musik und Sprache und Gebärde erlangt Wagner vor allem, daß er die Grundregungen des Inneren, welche durch Wort und Gebärde nur ausgedrückt werden, selbst, direkt darstellt; und jetzt wird Wort und Gebärde leichtverständlich. Jetzt kann der dramatische Darsteller wieder natürlich sein (der frühere mußte affektiren, Sentenzen sprechen usw.). Der ganze Haushalt des Dramas durfte einfacher sein, das idealisirende Element war nicht erst durch große Complicirtheit des Baus usw. zu schaffen, die Kraft der Musik vermochte in jedem Augenblick alles zu heben. Die Sprache convertirte sich aus einer Gedankensprache in eine Gefühlssprache, wurde gedrängter, warf die unsangbaren Hülfszeitwörter weg usw. Mit diesem neuen Lichtapparat hatte er es in der Hand, dem innern Leben eine Überzeugung zu geben, wie sie nie ein Künstler erreicht haben kann: er konnte dem Wunderbaren einen augenblicklichen Glauben verschaffen. Deshalb konnte er auch Prozesse darstellen, die wenig Handlung in banalem Sinne sind, sondern fast ganz im Innern abspielen und doch mit der höchsten Verständlichkeit an die Theilnahme der Hörer appelliren, z. B. im Tristan. Daraus folgt nun eine Veredelung der leidenschaftlichen Gebärde, des Plastischen, überhaupt bringt die Musik, weil sie die Empfindung gleichsam streckt (denn die gesungene Leidenschaft ist länger als die gesprochene), eine Überwindung der unplastischen Aufgeregtheit mit sich, des Allzubewegten, an denen das Wortdrama leidet.— Nachdem dies alles der Künstler als seinen Machtbereich wußte, griff er nach dem Stoffe, der groß genug war, zu zeigen, daß hier eine Macht da sei, wie sie kein Künstler der Welt besessen hat—zur Tragödie der Götter und Helden überhaupt. “Die Geschichte der Religion als Tragödie.”