Sommer 1875 11 [1-60]
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7. Man könnte auch die Freunde Wagner’s zu seinen Gefahren rechnen; es ist höchst wunderbar, wie er fast unbewußt jeder Parteigestaltung sein Lebenlang ausgewichen ist, wie sich andrerseits hinter jeder Phase seiner Kunst ein Kreis von Anhängern zusammenschließt, scheinbar ihn einschränkend. Er geht mitten durch sie hindurch und läßt sich nicht binden. Sein Weg ist zu lang gewesen, als daß so leicht ein Einzelner ihn von Anfang an hätte mitgehen können; und so ungewöhnlich und steil—fast allen ging einmal der Athem aus. Fast zu allen Lebensperioden Wagner’s hätten ihn seine Freunde gern dogmatisiren mögen, seine Feinde ebenfalls; und wenn eine geringere Art von Herrschsucht in ihm gewesen wäre, so hätte er viel zeitiger zum Herrn der deutschen Musikzustände werden können.
Der unselige Glaube, daß sich an ihn eine Schule von Componisten anlehnen müsse und werde, ist, wie ich vermuthe, nie der Glaube Wagner’s gewesen; wozu er als Musiker erziehn wollte und erzog, das ist zu meisterhaften Dirigenten und Vortragskünstlern, zu wahrhaft dramatischen Sängern. Sonst ist es ja in der Entwicklung der Musik der Augenblick, wo eine bei weitem höhere Kraft und künstlerische Sittlichkeit sich darin offenbart, ein tüchtiger Meister der Darstellung und Ausübung zu werden als wieder fortzucomponiren d. h. das wahrhaft Große in seinen Wirkungen zu verflachen, dadurch daß man es nachmacht und seine Wirkungen vervielfältigt. Es ziemt sich ein viel weihevolleres Befassen mit Musik und gerade deshalb eine Beschneidung des albernen Produktionstriebs; während die Aufgabe, die große Kunst Beethovens und Wagners vorzutragen, eben erst gestellt ist und bei begabtesten Talenten unerhörten Fleiß und Charakter in Anspruch nehmen wird. Sodann das Volk zu erziehn zu dieser Höhe: was wiederum nur durch das Beste geschehn kann. Jetzt freilich hat der widerliche Betrieb unserer gebildeten Musikanstalten jenen größten Skandal nicht verhindert, welchen die Deutschen in der Kunst begangen haben—daß ein großer Krieg eine “Volksweise” als seinen musikalischen Ausdruck fand wie “die Wacht am Rhein”; ein so süßliches und gemeines Ding, daß jeder Landsknecht eines deutschen Heeres davor ausspuckt hätte. Und dann die Pflege des Männergesangs, wo man das glacirte Volkslied, mit zuckriger Harmonie und Tempokünsten einlernt! und deutsche Sängerfeste feiert, unserer großen Musik ins Gesicht lachend!