Sommer 1875 11 [1-60]
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11. Wagner’s Prosa-Schriften, außerordentlich gedrängt den Gedanken nach, sind schwer zu verstehen, weil er nicht accentuiren will und weil im größeren Satzgefüge er Hochton und Tiefton nicht gegen einander abwägt; es ist ihm alles so wichtig, als ob alles unterstrichen wäre. Man wird diese Schriften bei weitem deutlicher finden, wenn man sie gut vorgetragen hört: denn sie sind im Sprechstil, nicht im Schreibstil geschrieben. Es ist ein unruhiger Rhythmus in ihnen, eine Ungleichmäßigkeit des Zeitmaßes, wodurch sie, als Prosa, in Verwirrung setzen; die Dialektik ist vielfach gebrochen, durch Gefühlssprünge und oft mit einer Art von Widerwilligkeit vorgetragen, gleichsam versteckt; gleichsam als ob der Künstler sich des begrifflichen Demonstrirens schämte. Am meisten beschwert den nicht ganz Vertrauten die Art der autoritativen Würde, die ganz eigen und schwer zu beschreiben ist: mir kommt es so vor, als ob Wagner häufig gleichsam vor Feinden spreche, mit denen er keine Vertraulichkeit haben mag und denen gegenüber er sich nicht natürlich, sondern zurückhaltend, abhaltend zeigt. Nun bricht häufig genug die fortreißende Leidenschaft durch diesen absichtlichen Faltenwurf hindurch; dann zerbricht die künstliche, schwere und mit Nebenworten reich geschwellte Periode, und es entschlüpfen ihm Sätze und ganze Seiten, die zu dem Schönsten gehören, was die deutsche Prosa hat: so namentlich im Beethoven. Im ganzen fehlte ihm, wenn er Prosa schrieb, der Leser; an das Volk dachte und als Volk fühlte er, wenn er als Künstler schuf; aber als prosaischer Erklärer—an wen richtete er sich da! ja sollte er den “Gebildeten” vor Augen haben, den Gelehrten? Fast mußte er es: und daher das Erzwungene, Sich-zwingende. Die Noth gab ihm seine theoretischen Schriften ein, er schildert es selbst: man nahm ihm ja sein schönstes Mittel, sich mitzutheilen, das Beispiel. Immerhin möchte ich wissen, bis zu welchem Grad der Verwirrung das Reden über Wagner und über Musik gerathen wäre, wenn er nicht geschrieben hätte: und gewissen Schriften wie dem Beethoven, Schauspieler und Sänger, “über das Dirigiren” wohnt eine verstummen machende Kraft bei, wie sich das im Fortgange unserer Gesittung immer deutlicher zeigen muß. Hier ist ein ganz Großer, der von Erlebtem redet: was hätten die Kleinen, die nichts erlebt haben, unsere Aesthetiker und Kunsthistoriker noch zu sagen! Aber selbst die älteren namhaften aesthetischen Schriften sind seitdem im Werthe gesunken; man bedarf jetzt der Wagnerischen Schriften mehr als des Lessingschen Laokoon und der Schillerschen Prosa-schriften. Dabei sind sie reicher, auch leichter zu verstehen als Schiller’s aesthetische Schriften, auch viel principieller; und verdienen deshalb viel mehr als die schillerschen an den Schulen und Universitäten gelesen und erklärt zu werden. Sie sind überhaupt die wichtigsten aesthetischen Schriften, die es giebt—schlimm daß man so etwas überhaupt noch sagen muß! Da ist alles—Problem und Lösung—erlebt erlitten und siegreich errungen, kein albernes Heiligsprechen und Schwören auf Aristoteles, wie selbst bei Lessing, tritt dazwischen. Zudem sind sie ein treffliches Übungsmittel in einer der schönsten Aufgaben, einen großen Künstler im Werden zu belauschen, zu sehn, wie er sich selbst verbessert—auch wenn er stolpert, schlägt er noch Feuer heraus—, befreit, verdeutlicht und “verinhaltlicht” aus dem Unbestimmten heraus kommt. Diese Schriften haben gar nichts Kanonisches, Strenges: sondern das Kanonische liegt in den Werken. Es sind Versuche, das Erlebniß zu begreifen, in Begriffen abzuhäuten. Wer es besser kann, thue es besser; es war ein schlimmer Zwang für Wagner, es überhaupt thun zu müssen. Es nahm ihm ja Keiner Zeit seines Lebens eine Last ab.