Sommer 1875 11 [1-60]
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23. Ein Wort über den Dichter Wagner. Denken in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Gedanken ist das eigentlich Dichterische: dies zeigt sich im Mythus; dem nicht ein Gedanke zu Grunde liegt, wie man gewöhnlich meint, sondern der selbst ein Denken ist, aber nicht in Begriffen, ich meine ein Weltbild, welches nicht in Worten zu umspannen ist, sondern in Vorgängen. Wie sich Musik ausnimmt für einen Tauben, der nur die Chladnischen Sandfiguren sieht, so ist der Mythus für den Nichtdenker, das Volk; und für dies dichtet der Dichter, der darin selbst zum Volk, ich meine zu den Nichtdenkern, gehört. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens. Vielleicht könnte ein Philosoph etwas ganz Entsprechendes zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung wäre: dann hätte man zwei disparate Sphären. Aus der einen könnte man in die andre nicht hinein: um zur einen, müßte man reiner Denker, um zur andren zu kommen, reiner Dichter sein. Die Gedanken, welche die Helden der Dichtung äußern, sind nicht die Gedanken des Dichters als Dichter: er denkt in Vorgängen, die Folge der Scenen, und das, was vorgeht, ist sein Denken. Nur die vielen Halbdichter bringen eine Verwirrung hervor: d. h. die Künstler, die nicht ganz Dichter sind.— Wenn nun Wagner bald den christlich-germanischen Mythus, bald Schiffahrer-Legenden, bald buddhaistische, bald heidnisch-deutsche Mythen, bald protestantisches Bürgerthum nimmt, so ist deutlich, daß er über der religiösen Bedeutung dieser Mythen frei steht und dies auch von seinen Zuhörern verlangt; so wie die griechischen Dramatiker darüber frei standen und schon Homer. Auch Aeschylus wechselte nach Belieben seine Vorstellungen, selbst von Zeus. Fromm ist ein Dichter niemals. Es giebt keinen Cultus, keine Furcht und Angst Schmeichelei vor diesen Göttern, man glaubt nicht an sie. Der Grieche, der im Bühnenhelden in abergläubischer Weise den Gott sah, war nicht der Zuschauer, den Aeschylus wollte. Die Religiosität der Götzen und Fetische muß vorüber sein, wenn jemand so frei in Vorgängen denken soll, als Dichter. Wagner fand einen ungeheuren Zeitpunkt vor: wo alle Religion aller früheren Zeiten in ihrer dogmatischen Götzen- und Fetischwirkung wankt: er ist der tragische Dichter am Schluß aller Religion, der “Götterdämmerung.” So hat er die ganze Geschichte sich dienstbar gemacht, er nimmt die Historie als sein Denkbereich in Anspruch: so ungemein ist sein Schaffen, daß er durch alles Gewordene nicht erdrückt wird, sondern nur in ihm sich auszusprechen vermag.— In welchem Lichte sieht er nun alles Gewordne und Vergangne?— Die wunderbare Bedeutung des Todes ist hier voranzustellen: der Tod ist das Gericht, aber das frei gewählte, das ersehnte Gericht, voll schauerlichen Liebreizes, als ob es mehr sei als eine Pforte zum Nichts. (Bei jedem starken Schritt des Lebens auf dem Bretterhaus resonirt dumpf der Tod.) Der Tod ist das Siegel auf jede große Leidenschaft und Heidenschaft, ohne ihn ist das Dasein nichts werth. Für ihn reif sein ist das Höchste, was erreicht werden kann, aber auch das Schwierigste und durch heroisches Kämpfen und Leiden Erworbene. Jeder solche Tod ist ein Evangelium der Liebe; und die ganze Musik ist eine Art Metaphysik der Liebe; sie ist ein Streben und Wollen in einem Reich, welches dem gewöhnlichen Blick wie das Reich des Nichtwollens erscheint, ein sich Baden im Meere der Vergessenheit, ein rührendes Schattenspiel vergangener Leidenschaft.