Sommer 1875 11 [1-60]
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5. Muße und Arbeit bei Wagner: es giebt für große Culturbewegungen immer Raststätten und Ruhepausen, und denen entsprechen auch wohl einzelne Begabungen ganz: so ist innerhalb der weihevollen und keuchenden Reformationsbewegung Montaigne ein solches In-sich-zur-Ruhe-kommen ein friedliches Dasitzen und Ausathmen; so las ihn gewiß Shakespeare. Ich empfinde mitunter diese Wohlthat bei Horaz, und es giebt Stimmungen, in denen solche Sätze eine zauberhafte Sänftigung in sich tragen. So weilt Wagner in der Historie; und es ist kein Zweifel, daß ihr heute diese Mission zufällt, im ungeheuren Ringen nach neuen Zielen einmal aufathmen zu können und sich gleichsam abgeschieden zu fühlen. Wenn die Deutschen seit einem Jahrhundert besonders den historischen Studien obgelegen haben, so zeigt dies, daß sie in der Bewegung der modernen Zeit die aufhaltende hemmende verzögernde und beruhigende Macht sind: was vielleicht Einige zu ihrem Lobe wenden dürften. Im Ganzen ist es ein höchstgefährliches Anzeichen, wenn das geistige Ringen eines Volkes vornehmlich der Historie zugewandt ist, ein Merkmal von Erschlaffung, von Rück- und Hinfälligkeit, von Müdegewordensein; dies stellen unsere Gelehrten in der Geschichte des modernen Geistes dar im Gegensatz zu allen Reformations- und Revolutions-Bewegungen, sie haben sich nicht die stolzeste Aufgabe zugestellt aber eine eigene Art friedfertigen Glücks sich gesichert. Jeder freiere männlichere Schritt führt freilich an ihnen vorüber, ein schaffender Mensch kann sich bei ihnen nur, wenn er einmal müde ist, aufhalten. So verhält sich Wagner zur Historie und Philologie; sie ist ihm ein Labsal auf der ungestümen Reise. Vielleicht wird die Historie dies nicht einmal sein können, wenn sie, wie es einst geschehen muß, in einem strengeren und tieferen Sinne und aus einer mächtigen Seele heraus geschrieben wird, als die deutschen Gelehrten bis jetzt gethan haben: es liegt etwas Beschönigendes, Unterwürfiges und Zufriedengestelltes auf allen ihren Arbeiten, und der Gang der Dinge ist ihnen recht. Es ist schon viel, wenn einer merken läßt, daß er gerade noch zufrieden sei weil es noch schlimmer hätte kommen können, die Meisten glauben unwillkürlich daß alles sehr gut sei, so wie es nun einmal gekommen ist. Wäre die Historie nicht immer noch eine verkappte christliche Theodicee, wäre sie mit mehr Gerechtigkeit und inbrünstigem Mitgefühl geschrieben, so würde sie zu einem furchtbaren Werkzeug der Revolution: während sie jetzt als Opiat gegen alles Umwälzende gedient hat. Ähnlich steht es mit der Philosophie; aus welcher ja die Meisten nichts andres lernen wollen als die Dinge ungefähr zu verstehen, um sich dann in sie zu schicken: und selbst in ihren edelsten Gestaltungen wird ihre stillende und tröstende Macht so stark hervorgehoben, daß die Ruhesüchtigen und Trägen meinen müssen, sie suchten das selbe, was die Philosophie suche. Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophien zu sein, wie weit die Dinge einen unabänderlichen Charakter haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt los zu gehen. Das lehren sie auch selber durch die That, dadurch daß sie an der Verbesserung der sehr veränderlichen Einsicht der Menschen arbeiteten und ihre Weisheit nicht für sich behielten; das lernen auch die wahren jünger wahrer Philosophien: welche, wie Wagner, aus ihnen nur gesteigerte Tapferkeit und Entschiedenheit für ihren Gang aber keine Einschläferungssäfte zu saugen verstehen. Wagner ist dort am meisten Philosoph, wo er am thatkräftigsten und heldenhaftesten ist; und vielleicht giebt es keine kühnere Symbolik für das heldenhafte und philosophische Verhalten zur Welt als das Wort Siegfrieds zu den Rheintöchtern, als er die Erdscholle über sein Haupt wirft “so werf ich es weit von mir.” Es ist dies die Philosophie, welche die Götter vernichtet, an der Wotans Speer zerschellt.