Sommer 1875 11 [1-60]
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14. Als Musiker hat Wagner etwas von Demosthenes, den furchtbaren Ernst um die Sache und den Griff und die Gewalt des Griffs, so daß er jedesmal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Nu, und sie hält als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener die Kunst, er macht sie vergessen und doch ist er, wie jener, die letzte und höchste Erscheinung unter einer ganzen Reihe von gewaltigen Kunstgeistern. Er hat nichts Epideiktisches an sich, was alle früheren Musiker haben, die gelegentlich alle mit ihrer Kunst spielen und sich zeigen: man denkt bei Wagner weder an das Interessante, noch Ergötzliche, sondern fühlt nur das Nothwendige. Dazu gehörte eine ungeheure Willenskraft und die höchste künstlerische Reinheit des Charakters. Keiner hat sich so strenge Gesetze auferlegt wie Wagner, man erwäge nur das Verhältniß der Singstimme zur ungesungenen Rede und wiederum der Melodie der Stimme zum ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein wahres Wunderwerk zu sehen! Und ist nicht jede Partitur Wagner’s eine Art von Beweis dafür, daß es vor ihm gar keine rechte Anstrengung und Arbeit und Gewissenhaftigkeit gab? Der Fleiß und die Erfindsamkeit im Einzelnsten ist geradezu ein Ideal. Wie erscheint einem da ein Dichter! Wie etwas sehr Bequemes und Sorgenfreies, wie ein mit vielen Mußestunden beglückter Mensch, der die Arbeit scheut. Damit hat Wagner alle ausübenden Musiker hoch hervorgehoben, sie alle können mit ihrer Seele in ihrem Vortrage sein, weil ihre Aufgabe eine Seele fordert. Der virtuose Handwerker der Kunst ist durch Wagner abgethan; er reizt nicht mehr. Durch seine Mühe und Last und Zwang hat Wagner denen, die die Kunst ausüben, es leichter gemacht, er hat sie vor dem Gefühl, entwürdigt zu sein, geschützt. Und so hat Wagner allen denen geholfen, die sich mit Kunst abgeben; es wird bald nicht mehr möglich sein, daß der leichtfertige Betrieb der Kunst durch unsre Höfe, Stadttheater, Concertgesellschaften, weichliche Kunstfreunde und alle Art von “stillem Trunk ergebenen Leuten,” die Kunst auf ihrem Kämmerlein in weichlicher Selbstbefriedigung treiben, sich vor der allgemeinen Verachtung rettet. Wir, die wir wissen, was alles an der einmal richtig erfaßten Kunst hängt, welches Geflecht von Pflichten—verachten wenigstens alle bestehenden Einrichtungen der Kunstpflege auf das Tiefste. Der Gegensatz ist freilich ins Ungeheure aufgerissen! und es ist möglich, daß die Nachkommen zu schwach sind, um ihn zu überwinden. Mit Demosthenes war es vorbei. Aber es sind noch genug Menschen da, welche das fruchtbare Land sind, auf welchem Wagner säen kann—genug, welche wenigstens zu kämpfen und zu arbeiten verstehen: Bayreuth beweist es. Da haben wir für die kommenden Tage schöne Arbeit mit Sicheln und Sensen dem Unkraute beizukommen. Durch diese Arbeit adeln wir uns; denn bisher war es in meinen Augen eine fast verächtliche Sache, ein “Kunstfreund” zu heißen, und ich schätzte die deutlich erkennbaren Kunstfeinde mehr; denn bei ihnen verrieth sich doch häufig das Gefühl, daß dies eine Beschäftigung einer üppigen und selbstsüchtigen Klasse sei, fern von der Noth des Volkes und im Grunde ein Mittel, sich gerade vom Volke zu “distinguiren.” Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft, zur Erneuerung und Einigung des Volkes drängt!