Sommer 1875 11 [1-60]
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8. Hervorragend ist Wagner’s Trieb zur Mittheilung und seine Erfindsamkeit im Mittheilen. Ein Gedanke, wie der seinige, in der höchsten Kraft empfangen und zur Schönheit geboren, würde verurtheilt erscheinen, ein Hirngespinst zu bleiben, wenn Wagner nicht diese biegsame und unersättliche Mittheilbarkeit besäße. Er denkt seinen Gedanken in die jedesmaligen Umstände und Zeiten hinein, und erscheint dann der Ausdruck desselben verkümmert, so ist er trotzdem selbst in Wagner’s Kopf und Herz rein und groß geblieben. Wo eine kleine oder bedeutende Gelegenheit sich von Ferne zeigte, seinen Gedanken durch ein Beispiel zu zeigen, war er bereit; wo eine halbwegs empfängliche Seele sich ihm aufthat, warf er seinen Samen hinein. Er knüpft Hoffnungen an, wo der kalte Beobachter mit den Achseln zuckt; er täuscht sich hundertfach, um einmal gegen diesen Beobachter Recht zu behalten—und um auf die Dauer gegen alle Skeptiker überhaupt Recht zu behalten. Die kleinen und großen Orchester, die er führte, die einzelnen Musiker und Schauspieler, denen er ein Wort sagte, die Städte, die ihn im Ernste seiner Thätigkeit sahen, die Fürsten und Frauen, die halb mit Scheu halb mit Liebe etwas von ihm zu erhaschen suchten, die verschiedenen europäischen Länder, denen er zeitweilig angehörte, die auf das Eifrigste weitergesprochenen Nachrichten, die er von seinen Plänen gab (und von denen schon seit Jahrzehnten die aesthetischen Berichterstatter der Zeitungen fast gelebt haben), die Schriften, mit denen er sich half, wenn er nicht zur That kommen konnte, die Schüler, die er sich erzog—überall ein Echo seines Gedankens, oft absichtlich entstellt, aber tausendfältig; und man braucht nicht lange mehr zu warten, so entspricht der Obermacht jenes gewaltigen Tones, den er in die Welt hineinrief, auch die Übermacht des Echos. Dann ist es nicht mehr möglich, ihn nicht zu hören. Während er so durch alle hindurch geht, wird er nicht der Sklave derer, welchen er sich mittheilt: er selber schreitet höher und bleibt nicht im Banne des einmal ausgesprochenen Worts, und überhaupt irgendeiner eigenen Vergangenheit. Man überlege nur, und schaudere bei dieser Überlegung: was stand auf dem Spiele, wenn Wagner jenen Gedanken nie durch ein solches Beispiel hätte zeigen können, wie er es jetzt in Bayreuth zeigt!; und wie groß war selbst die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gedanke, von dem die anderen Menschen sich nicht träumen ließen, auch nur ein Traum im Kopfe dessen geblieben wäre, der ihn erdachte, und daß an Stelle von Bayreuth man von einem “Utopien” spräche. Es ist ja erstaunlich, was behagliche Menschen alles Utopien nennen: hier aber wären die unbehaglichtsen und kühnsten Menschen fast im Recht gewesen, von Utopien zu sprechen. Ein höherer Grad von Ekel und Verzweiflung an den Menschen, eine trotzigere Selbstigkeit des Erfinders hätte genügt: und im Grunde haben Wagner’s Zeitgenossen auch alles gethan, um ihn zum Ekel zu bringen und in sich selber zurück zu drängen. Aber er wurde nicht müde und blieb gütig in seinem Willen, mitzutheilen.
Er verschmerzte das Ungeschick und die prüde Beklemmtheit, mit der man hier und da sich herbeiließ, seine Kunst zu fördern, als ob der nächtliche Volksauflauf in den Straßen Nürnbergs (in den Meistersingern) durch Ballettänzer wiederzugeben sei; er vertrug es, obwohl oft mit dem bittersten Zwange, daß sein Werk gerade unter den von ihm bekämpften Namen und Formen, in der Entstellung zur “Oper,” Besitz von den Menschen ergriff; er erduldete selbst das Herbste—der große Dulder—, seine Freunde von “Erfolgen” und “Siegen” berauscht zu sehen, wo sein einzig-hoher Gedanke gerade mitten hindurch zerknickt und verleugnet war. Zum Entgelt für alle diese tiefsten Nöthe sagte er endlich: mein großes Werk ist fertig, jetzt sollt ihr es sehn—dort auf dem Hügel bei Bayreuth. Das war seine Rache: er theilte sein höchstes Besitzthum mit, den angesammelten Schatz von zwanzig Meisterjahren!— Aber der, welchem gegeben wird, muß auch annehmen können: und der große Sinn des Gebens fordert einen großen Sinn des Nehmens. Hier ist aber der Schatz fast übergroß: um ihn zu heben, mußte Wagner auch seine Kraft, sein Vertrauen, sein Wagen, sein blitzartiges Erfassen, sein treues Benehmen auf uns Alle übertragen: und diese dämonische Übertragbarkeit der ganzen Wagnerischen Natur ist fast noch eben so wunderbar als seine Natur selbst. An jedem Orchester, das Wagner führt, kann man ein Beispiel sehen; die von ihm benannte und zuerst geübte “Modifikation des Tempo’s” ist im Grunde die Übertragung des Wagnerischen Seelenrhythmus auf die Seelen der von ihm geleiteten Musiker; und wie so die Seelen der Musiker erlöst und ins Hohe verwandelt sind, ist auch wiederum die Seele der Musik aus dem eisernen Gitterwerk der mathematisch zertheilten Zeit erlöst und redet nun erst vernehmlich zu uns. Und so, wie Wagner sich den Musikern mittheilt, wird sich der Geist und Rhythmus seines Bayreuther Werkes den Schauern und Hörern nittheilen müssen, so daß ihre Seele ausgeweitet, ihre Bogen schon ausgespannt sind, wie nie zuvor: nur dann erst wird das Ungeheure ganz gethan sein, wenn es auch in’s Ungeheure wirkt und eine Furche hinter sich aufreißt, welche nicht wieder zugefüllt werden kann. Wohin diese Furche sich reißt, nach welcher Richtung,—wer möchte es ganz errathen? Aber eine Vermuthung, eine einzelne neben anderen, darf jetzt schon laut werden.
(Damit Übergang zur letzten Capitel., Bedeutung der Kunst, Fortsetzung, ihre Stellung in der wiederhergestellten Gesellschaft, Erziehung.)