Sommer 1875 11 [1-60]
11 [39]
6. Wie er als Lernender dann wieder Herr wird über das Erlernte in Hinsicht auf Historie. Überkommt Wagner dann wieder seine bildende Kraft, dann ist ihm die Historie etwas anderes geworden; die Vergangenheit hat sich gleichsam geballt, verdichtet; er steht zu ihr wie der Grieche zu seinem Mythus, als zu etwas, an dem man mit Liebe und scheuer Andacht formt und weiterspinnt; sie ist biegsamer wandelbarer als eine Wirklichkeit geworden und trägt doch mehr Zeichen der einstmaligen Wirklichkeit als irgend ein vergangnes Ereigniß. Wo ist das ritterliche Mittelalter so mit Fleisch und Geist in ein Gebilde übergegangen, wie dies im Lohengrin geschehen ist? Und werden nicht die Meistersinger noch zu den spätesten Zeiten von dem deutschen Wesen erzählen, ja mehr als erzählen: werden sie nicht vielmehr eine der reifsten Früchte jenes Wesens sein, das immer reformiren, nicht revolviren kann und das auf dem breiten Grunde seines Behagens auch das edelste Unbehagen der erneuernden That nicht verlernt hat?
Zu erinnern, wie allein in der Musik überhaupt das völlig-Gelehrtenhafte überwunden ist—es ist der höchste Triumph des modernen Geistes, und der erste Musiker Wagner zeigt wieder in nuce dieselbe überwindende Kraft.