Sommer 1875 11 [1-60]
11 [20]
21. Wie Unrecht thäte man, anzunehmen, Wagner sei es um die Kunst allein zu thun und er betrachte sie als das Heilpflaster für alle übrigen elenden Zustände! Sie ist ihm nur der Trost der gegenüber, aber wo ist die Grenze der, wenn man auf das weite Menschheitsleben blickt! Für das Individuum bleibt es der Haupttrost, seiner individuellen gegenüber; zugleich aber stählt er so das Individuum, daß er den Kampf für das Allgemeine aufnimmt. Gerade das Drama Wagner’s zeigt den Kampf des Individuums bis aufs Messer mit dem, was als gilt, Gesetz, Herkommen, Vertrag, Macht, Geld; das Individuum kann nicht schöner leben, als wenn es in diesem Kampfe zum Tode reift und sich opfert. Dem hinsterbenden Individuum tritt das unerschöpfliche Leben der Gattung gegenüber; was ist unüberwindlich für diese!— Immerhin ist die Kunst für eine Ruhepause im Kampf, nicht für den Kampf selbst: für jene Minuten, wo man rückblickend und vorblickend alles symbolisch versteht, wo eine leise Müdigkeit uns befällt. Die Kunst ist der Traum für den Schlaf des Kämpfers, der erquickende Traum für den erquickenden Schlaf des Kämpfers. Der Tag bricht gleich wieder an, die heiligen Schatten verschweben, und da ist die Kunst fern. Aber ihre Tröstung liegt über dem Menschen von der Frühstunde her. So ist sie die höchste Weltbeglückerin, obschon ihr Glück wie ein Schatten ist. So ist die Kunst eine höhere Stufe der Religion, ohne deren gemeine Grundmotive, Betteln bei den Göttern und Abkaufen von etwas, ohne die niedrige Sucht nach Gewinn. Und so erscheint auch historisch die Kunst am Aussterben der Religionen; freilich werden dann gewöhnlich die Religionen noch durch die Kunst conservirt, durch Tempel Festaufzüge Ritual, dramatische Schaustellungen; dazu die vererbte Dankbarkeit gegen die mythischen Gestalten, welche der Kunst zu Gute kommen. Ein Zustand der Menschen, welcher die Kunst und Religion entbehren könnte, ist vielleicht keine Unmöglichkeit, aber wir können ihn uns noch nicht einmal imaginiren. Die beiden größten Leiden—1) die Unsicherheit des Wissens, die Nichtgemeinsamkeit desselben bei allen Menschen und 2) die Ungleichheit des Könners—diese Leiden sind kunst bedürftig. Man kann nicht glücklich sein, so lange um uns herum alles leidet: man kann nicht sittlich sein, so lange der Gang der Dinge durch Macht und Gewalt und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, so lange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer nach Weisheit gerungen hat. Überall findet der Einzelne sein Ungenügen: wie sollte er es aushalten können ohne zugleich in seinem Kampfe und Streben und Untergange etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles zu erkennen? Das zeigt ihm die Tragödie; sie hat Lust am Rhythmus der Leidenschaft und am Opfer derselben; sie erhält die tragische Gesinnung aufrecht und zeigt sie in allem Wechsel der Sitten und Religionen als vorhanden. Lieber sterben als seinem innersten Zuge, seiner Leidenschaft, deren Verkörperung wir sind, untreu werden! Wehe der Menschheit, wenn dieser tragische Sinn ihr je entschwände! Nur ist die Kunst keine direkte Lehrerin und Erzieherin für das Handeln; die Objekte, die die tragischen Helden erstreben, sind nicht ohne Weiteres erstrebenswerthe Dinge. Es ist wie im Traum; was wir während der Bezauberung der Kunst für erstrebenswerth halten, so daß der Tod lieber zu wählen ist als darauf zu verzichten, das ist nicht oder selten im Leben zu gebrauchen; dafür ist die Kunst für die Ruhe und Rast, für den Schlaf des Thätigen; ihre Probleme sind vereinfacht, erleichtert, es sind lauter Abkürzungen der unendlich complizirten Rechnung des wirklichen Lebens. Aber gerade darin liegt ihre Größe und Unentbehrlichkeit, daß sie den Schein einer einfacheren Welt, einer präziseren Lösung seiner Räthsel erregt. Niemand kann diesen Schein entbehren; je complizirter die Erkenntniß von den Gesetzen des Daseins wird, um so inbrünstiger begehren wir nach jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke; um so größer wird die Spannung zwischen Erkenntniß und Einzelnem; damit der Bogen nicht breche, ist die Kunst da. Da aber diese Kluft immer größer wird, und dem Einzelnen eine immer höhere Spannung zugemuthet wird, im Zeitalter der untergehenden Religionen, so kommen wir in eine Periode der Kunst, wie sie noch nie nöthig war und noch nie da war.