Sommer 1875 11 [1-60]
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3. Ein heftiger Wille, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans Licht will, springend, kletternd, fliegend, wild an die Wände stoßend und flatternd; eine jähe elementare Strömung, die unbefriedigt nach allen Seiten über das Strombett hinausschießt; eine auf verborgenen Felsen unruhig ruhende, wund und wild gewordene Meeresgottheit, die am Sturme mehr Lust hat als an der glatten Spiegelung des Himmels—dies ist die eine Seite der Wagnerischen Natur, furchtbar und friedlos, sich und anderen zur Qual (mir gab die Norn den Geist, der stets “unbefriedigt”). Dieser Wille, mit einem engen Geiste verbunden und zufällig Macht gewinnend, wäre ein Verhängniß geworden. Nur ein ganz hoher und freier Geist konnte dieser wilden Natur einen Weg ins Gute und Hülfreiche weisen und sie davor bewahren, daß sie gegen sich selber zerstörerisch wüthete. Dieser Geist, der sich auf Wagner niederließ, und der wie eine Flamme dem hin und her geworfenen Seefahrer beim Unwetter die Richtung zeigte, war der Geist der Musik; er führte ihn, ohne ihn erst in Fesseln geschlagen zu haben; wie es zum Beispiel der Geist der Politik gethan haben würde, wenn er sich mit einer solchen Natur hätte paaren wollen. So durfte er frei bleiben, denn es war ein liebevoller mit Güte und Süßigkeit überschwänglich mild zuredender Geist, dem die Gewaltthat und das Machtwort verhaßt ist und der Niemanden in Fesseln sehen will. Es gab Stunden und Zeiten, wo ihn auf eine schreckliche Weise der Zweifel heimsuchte, ob ihm dieser Geist noch treu geblieben sei; und wenn er dann seinen edel-mächtigen Flügelschlag um sich fühlte, so drang eine tiefe heiße Dankbarkeit und eine Fülle von ungesprochenen Gelöbnissen zu ihm empor: Treue gegen den Geist der Musik wurde seine Religion.— Wie aber die Musik zu Wagner’s Willen redete, erschließen wir zu halbem Wege daraus, wie Musik zu uns spricht: wer könnte aber hierüber ganz deutlich reden? Genug, daß fast alle andere Musik uns—nicht bloß mir: denn ich brauche wahrhaftig nicht von mir allein zu reden—daß fast alle andere Musik uns nur wie eine veräußerlichte befangene unfreie Sprache klingt, als ob gespielt werden sollte, vor solchen, die des Ernstes nicht würdig wären oder als ob gelehrt und demonstrirt werden sollte, vor solchen, die nicht einmal des Spieles würdig wären. Es giebt in aller andren Musik eben nur kurze Stunden, wo plötzlich jene Sprache zu uns dringt, die wir immer in Wagner’s Musik hören: seltne, sie gleichsam überfallende Augenblicke der Vergessenheit, wo die Musik mit sich selber redet und den Blick aufwärts richtet, wie die Rafaelsche Caecilia, weg von den Hörern, die Zerstreuung und Lustbarkeit oder Gelehrsamkeit von ihr fordern. Ich wüßte nicht, auf welchem Wege ich je des reinsten sonnenhellen Glücks theilhaftig geworden wäre als durch Wagner’s Musik: und dies obwohl sie durchaus nicht immer vom Glück redet, sondern von den furchtbaren und unheimlichen unterirdischen Kräften des Menschentreibens, von dem Leiden in allem Glücke und von der Endlichkeit unseres Glücks; es muß also in der Art, wie sie redet, das Glück liegen, das sie ausströmt.— Man rechne nur nach, woran Wagner seine eigentliche Lust und Wonne hat, an was für Scenen, Conflikten, Katastrophen—da begreift man, was er ist und was die Musik für ihn ist. Wotan’s Verhältniß zu Siegfried ist etwas Wundervolles, wie es keine Poesie der Welt hat: die Liebe und die erzwungene Feindschaft und die Lust an der Vernichtung. Dies ist höchst symbolisch für Wagners Wesen: Liebe für das, wodurch man erlöst gerichtet und vernichtet wird; aber ganz göttlich empfunden!