Sommer 1875 11 [1-60]
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9. Es ist durch Wagner wieder einmal bewiesen, daß der Einzelne, während eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas ganz Neues zeigen kann, daß einem, der auf den Kanon der Allmählichkeit der Entwicklung schwört, Hören und Selen vergeht. Alle begabten Menschen sind sehr geschwind—ich will einmal sehen, wie lange es dauert, bis unsere nichtgeschwinden Zeitgenossen nachgekommen sind; ihr Glaube an die Langsamkeit und an die Ameisen-Arbeit Vieler ist keine Schmeichelei auf ihre eigne Begabung. Von einem solchen Werk wie den Nibelungen, von einem Unternehmen wie dem Bayreuther, gab es keine Vorzeichen, keine Übergänge, keine Vermittlungen. Den langen Weg zum Ziele und das Ziel selbst wußte Keiner außer Wagner; es ist eine Weltumsegelung im Reich der Kunst, wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die wahre Kunst selber entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Künste sind dadurch als vereinzelte als Einsiedler- oder Luxus-Künste entwerthet; die halbtodten Erinnerungen an die wahre Kunst, die wir Neueren von den Griechen her hatten, dürfen nun ruhen. Es ist für Vieles an der Zeit, jetzt abzusterben. Alle spielsüchtige verweichlichte Kunst ist tödtlich erschrocken, alle mönchisch-einsame, verkümmerte Kunst erlöst. Das viele Reden und Lärmen, welches die moderne Bildung von der Kunst gemacht hat, wird als eine schamlose Zudringlichkeit empfunden werden, jetzt wo jeder jünger der neuerstandenen Kunst sich zu einem fünfjährigen pythagoreischen Schweigen verpflichtet. Er verlangt nach heiligeren Wassern und nach Weihungen; denn wer hätte nicht an dem widerlichen Götzendienst der bisherigen Kunst Hände und Gemüth besudelt! Schweigen und Reinsein—das gelobt er sich.