Sommer 1875 11 [1-60]
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20. Die Geschichte der Entwicklung der Cultur seit den Griechen ist kurz genug, wenn man den eigentlichen zurückgelegten Weg in Betracht zieht und das Stillestehen, Zurückgehen, Zaudern, Schleichen gar nicht mit rechnet. Die Hellenisirung der Welt und die Orientalisirung des Hellenischen—die Aufgabe des großen Alexanders—ist immer noch das letzte große Ereigniß; die Übertragung einer fremden Cultur immer noch das Problem, an dem wir herumrechnen. Inzwischen ist der Alexandrinismus in immer höherer Kraft hervorgetreten; das verdummende Zwischenspiel des Christenthums—das rhythmische Spiel der beiden Faktoren gegen einander, an dem die Welt zu leiden hatte—natürlich abgerechnet, ist der Gang der Wissenschaft weiter geworden. Aber bei der unendlichen Zerstreuung des hellenischen Geistes ist die eigentliche Culturwirkung des Hellenischen auch immer fadenscheiniger und blässer; vor allem fehlt jede Einheit, es ist ein verwirrtes Wogen. So ist denn jetzt eine Reihe von Gegenalexandern nöthig geworden, die die ungeheure Kraft haben zusammenzuziehn und zu binden, die entferntesten Fäden heranzulangen und das Gewebe vor dem Zerblasenwerden zu bewahren. Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, so daß seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flattern, sondern ihn zu binden, nachdem er gelöst war—das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander. Er hat, medizinisch zu reden, etwas Adstringirendes, er bannt und schließt zusammen, was vereinzelt und schwach, lässig war: insofern gehört er zu den ganz großen Culturgewalten und ist der Erste einer neuen Reihe von Menschen. Er waltet über den Religionen, über den Künsten, über den Wissenschaften der Geschichte und ist doch der Gegensatz eines Polyhistor, eines zusammentragenden zusammenrechnenden und ordnenden Talentes (wie Aristoteles für die Natur es war). Er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der Welt. Dabei hat er so viel Menschheitsstufen in sich, um auch ganz in eine sofortige gegenwärtige Aufgabe sich hineinzudenken; er verbindet nicht nur die entferntesten Punkte des großen Meeres, sondern er kann auch, wenn er will, Küstenfahrer sein und sich der kleineren zeitgemäßen Arbeit gewachsen zeigen.