Sommer 1875 11 [1-60]
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Die sittliche Grundnatur Wagner’s entfaltet sich immer leuchtender. Auch sie braucht Sonnenschein d. h. den Erfolg im Streben. Ein großes Ziel bringt große Gefahren! und die Unzulänglichkeit dazu und folglich auch die mangelnde Einsicht in diese Unzulänglichkeit—mitunter in den Umständen liegend?—macht böse, man sucht die Gründe in Anderen für das Mißlingen, geht Neben- und Schleichwege, immer im Glauben an sein Ziel und behandelt alle Welt als schuldig, wird gleichsam unterschwürig und reizbar, ungerecht; so geschieht es, daß gute Naturen verwildern, auf dem Wege zum Besten.— Selbst unter denen, welche der sittlichen Reinigung nachjagten, unter Mönchen und Einsiedlern, finden sich verwilderte und über und über erkrankte Menschen.— Wagner durch Mißlingen ausgehöhlt und zerfressen wäre eine fürchterliche Natur; es würde ihn die finstere Melancholie eines Umsturz-Dämons einhüllen. Man soll nur mit schamhafter Zurückhaltung vor dem unenthüllbaren Heiligen des Innern reden: aber ist es nicht zu fühlen, wie im Grunde des Rienzi, des Holländers, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Hans Sachs, Wotan, Brünnhilde ein verbindender unterirdischer Strom der sittlichen Veredlung fortläuft, und wie immer reiner und heller dieser Strom fluthet? Welcher Künstler bietet uns ein ähnliches Bild? Vielleicht Schiller. Aber doch ist der Maßstab großartiger bei Wagner, der Weg auch viel ausgedehnter. Die Musik, nicht nur der Mythus spricht diese Läuterung aus: und im Ring des Nibelungen ist eine Höhe und Heiligkeit der Stimmung erreicht, daß wir an das Glühen der Eisund Schneegipfel denken müssen. Wie eine wilde Naturkraft, dunkel und unruhig, begann Wagner, suchte stürmisch Befriedigung, dort wo sie die Meisten finden, floh mit Ekel zurück, versuchte es mit Neuem, erstrebte Macht berauschenden Erfolg Taumel und wieder Entsagung, versuchte die Last von sich zu werfen, zu vergessen, neu zu beginnen; der gesammte Strom stürzte sich bald in dieses, bald jenes Thal, kroch in die dunkelsten Schluchten, riß ungestüm Felsen und Wälder an sich, zertrümmerte, tobte—in der Nacht dieses halb unterirdischen Wühlens stand ein Stern über ihm: die Treue, die selbstlose Treue. In immer neuen Bildern prägte er sie aus, Elisabeth zu Tannhäuser, der Bruder zur Schwester im Rienzi, Freund zum Freund, Diener zum Herrn, Elsa zu Lohengrin, Senta zum fliegenden Holländer, Brünnhilde zu Wotan’s innerstem Wunsch, Brünnhilde zu Siegfried: warum leuchtete ihm dies Wort gerade heller und gab ihm unaufhörlich zu denken und in Vorgängen zu dichten? Es ist dies das Urgeheimniß Wagner’s: das Verhältniß der beiden innersten Kräfte seines Wesens zu einander, Wille und Intellekt,—daß diese sich treu bleiben, ist die große Nothwendigkeit, das Eine, was für ihn noth thut, wodurch er ganz bleibt; während er die schrecklichen Gefahren der Untreue, der Verführungen dazu um sich sieht. Jeder dieser Triebe strebt für sich, in’s Ungemessene, will Befriedigung, es ist die innerste Seelenangst Wagner’s, daß sie treu bleiben. Seine künstlerischen Begabungen sollen sich ebenfalls treu bleiben, und doch lockt die edelste Art der Neugierde bei Seite, es lockt z. B. die Verführung zur symphonischen Form: fühlt Ihr’s nicht, wie oft Wagner sich mit grausamem Entschlusse dem dramatischen Ganzen, das wie ein Schicksal unerbittlich ist, unterwirft und wie der Musiker nicht durchgeht, wozu er so große Lust hätte?— Diese Treue gegen sich selbst oder gegen ein höheres Selbst, eines Weiblichen zu einem Männlichen ist das innerste Problem Wagner’s; von da aus versteht er die Welt. Man denke nur an die Überfülle von Talenten, die alle für sich wollen! Die Treue ist bei Wagner sogar der universalere Begriff, unter den die Liebe fällt, die Geschlechts- Geschwister- Kindesliebe. Das ganze Thema der Treue ist bei ihm ausgeschöpft: das Herrlichste ist wohl Brünnhilde, die gegen den Befehl Wotan’s Wotan Treue bewahrt und dadurch die Erlösung der Welt möglich macht—ein mythischer Gedanke vom höchsten Range und ganz ihm zu eigen. Da ist aber auch das Gefühl der erlittenen Untreue das Furchtbarste, was je ein Künstler erdacht hat: der Schwur “bei des Speeres Spitze” durch Brünnhilde das Herzzerschneidenste, was es giebt; wie mit Tigertatzen fällt uns da die Leidenschaft an. Die vielen tragischen Möglichkeiten, die in der Treue liegen, hat Wagner für die Kunst erst entdeckt. Sein eigenes Leben ging durch diese Möglichkeiten hindurch und war dadurch eines der schwersten Leben, das gelebt werden kann. Auf der größten Hälfte seines Lebens liegt das Nicht-Hoffen; darum auch das Nichtverzweifeln; aber wie ein Wanderer mit schwerer Bürde durch die Nacht zieht, allein, so mag ihm oft zu Muthe gewesen sein: ein plötzlicher Tod erschien ihm dann nicht als ein schreckendes, sondern ein verlockendes liebreizendes Gespenst. Last, Weg und Nacht—alles mit einem Male fort! Die Treue hielt ihn und stritt mit dem Gespenst.