Sommer 1875 11 [1-60]
11 [45]
1. Die Deutschen sind ein lernendes Volk; und wenn ausnahmsweise einmal eine große Begabung unter ihnen auftritt, so zeigt sie auch diese Begabung in einem Maaße, das für andere Völker unbegreiflich ist. Wagner’s Kunst und Wollen bleibt gegenwärtig für Nichtdeutsche schon deshalb etwas Unbemeßbares, weil sie auf eine solche Polyphonie des verschiedenartigsten Wissens an ihren Künstlern nicht eingewöhnt sind und weil sie sich überhaupt schon durch die weite Spannung des deutschen Wissens noch mehr belästigt als verwundert fühlen. Um ein Meister in der Musik zu werden ist jetzt fast jedes Menschenleben schon zu kurz: man lernt kaum aus, wenn man sich das Gebiet zertheilt und zum Beispiel sein Vollenden in der Kunst des Vortrags sucht. Wagner wurde ein allseitiger Meister der Musik und der Bühne und in jeder ihrer technischen Vorbedingungen ein Erfinder und Mehrer. Aber er wurde viel mehr: und um dies zu werden, war es ihm so wenig wie irgend jemandem erspart, auf dem Gebiete, wo er schaffen und erfinden sollte, sich lernend die höchste Cultur anzueignen. Wagner der Erneuerer des einfachen Drama’s, der Entdecker der Stellung der Kunst in der wahren menschlichen Gesellschaft, der dichtende Erklärer vergangener Lebensbetrachtungen, der Philosoph, der Historiker, der Aesthetiker Wagner, der deutsche Mytholog, der zum ersten Male einen Ring um das herrliche uralte Gebilde schloß und die Runen seines Geistes darauf eingrub—welche Fülle von Wissen hatte er zusammen zu bringen und zu umspannen, um dies alles werden zu können! Und doch erdrückte weder diese Summe seinen Willen zur That, noch leitete das Einzelne und Anziehendste ihn abseits; um das Ungeheure eines solchen Charakters zu messen, nehme man zum Beispiel das große Gegenbild Goethes, der wie ein vielverzweigtes Stromnetz erscheint, welches aber seine ganze Kraft nicht zum Meere trägt, sondern mindestens eben so viel auf seinen Wegen und Krümmungen verliert und verstreut als es am Ausgange mit sich führt. Es ist wahr, ein solches Wesen hat und macht mehr Behagen, es liegt etwas Mildes und Edel-Verschwenderisches um ihn herum: während Wagner’s Kunst und Stromgewalt vielleicht erschrecken und abschrecken kann. Mag aber sich fürchten, wer will: wir Anderen wollen dadurch nur um so muthiger werden, dadurch daß wir einmal einen Helden mit Augen sehen, der “das Fürchten nicht gelernt hat.” Er geht nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit hindurch und findet sein ihm vorbestimmtes Werk.