Herbst 1887 9 [101-190]
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| (70) | Aesthetica. |
Die Zustände, in denen wir eine Verklärung u[nd] Fülle in die Dinge legen und an ihnen dichten, bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln:
der Geschlechtstrieb
der Rausch
die Mahlzeit
der Frühling
der Sieg über den Feind, der Hohn:
das Bravourstück: die Grausamkeit; die Ekstase des religiösen Gefühls.
Drei Elemente vornehmlich:
der Geschlechtstrieb, der Rausch, die Grausamkeit: alle zur ältesten Festfreude des Menschen gehörend: alle insgleichen im anfänglichen “Künstler” überwiegend.
Umgekehrt: treten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das animalische Dasein mit einer Erregung jener Sphären, wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben:—und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der aesthetische Zustand. Letzterer tritt nur bei solchen Naturen ein, welche jener abge[ben]den und überströmenden Fülle des leiblichen vigor überhaupt fähig sind; in ihm ist immer das primum mobile. Der Nüchterne, der Müde, der Erschöpfte, der Vertrocknete (z.B. ein Gelehrter) kann absolut nichts von der Kunst empfangen, weil er die künstlerische Urkraft, die Nöthigung des Reichthums nicht hat: wer nicht geben kann, empfängt auch nichts.
“Vollkommenheit”: in jenen Zuständen (bei der Geschlechtsliebe in Sonderheit usw.) verräth sich naiv, was der tiefste Instinkt als das Höhere, Wünschbarere, Werthvollere überhaupt anerkennt, die Aufwärtsbewegung seines Typus; insgleichen nach welchem Status er eigentlich strebt. Die Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der Reichthum, das nothwendige Überschäumen über alle Ränder ...
Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andererseits eine Anregung der animalischen Funktionen durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens;—eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.
In wiefern kann auch das Häßliche noch diese Gewalt haben? Insofern es noch von der siegreichen Energie des Künstlers etwas mittheilt, der über dies Häßliche und Furchtbare Herr geworden ist; oder insofern es die Lust der Grausamkeit in uns leise anregt (unter Umständen selbst die Lust, uns wehe zu thun, die Selbstvergewaltigung: und damit das Gefühl der Macht über uns.)