Herbst 1887 9 [101-190]
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(78) Die “Reinigung des Geschmacks” kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsere Gesellschaft von heute repräsentirt nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklich in’s Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr, der vielfache Mensch.— Goethe als schönster Ausdruck des Typus (—ganz und gar kein Olympier!)
Das Recht auf den großen Affekt—für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die Entselbstung und der Cultus des “Objektiven” eine falsche Rangordnung auch in dieser Sphäre geschaffen haben. Der Irrthum kam auf die Spitze, als Schopenhauer lehrte: eben im Loskommen vom Affekt, vom Willen liege der einzige Zugang zum “Wahren,” zur Erkenntniß; der willensfreie Intellekt könne gar nicht anders, als das wahre eigentliche Wesen der Dinge sehn.
Derselbe Irrthum in arte: als ob Alles schön wäre, sobald es ohne Willen angeschaut wird.
Der Kampf gegen den “Zweck” in der Kunst ist immer der Kampf gegen die moralisirende Tendenz der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral: l’art pour l’art heißt: “der Teufel hole die Moral!”— Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die Übergewalt des Vorurtheils; wenn man den Affekt des Moralpredigens und “Menschenverbesserns” von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, daß die Kunst überhaupt ohne “Affekt,” ohne “Zweck,” ohne ein außeraesthetisches Bedürfniß möglich ist. “Wiederspiegeln,” “nachahmen”: gut, aber wie? alle Kunst lobt, verherrlicht, zieht heraus, verklärt—sie stärkt irgend welche Werthschätzungen: sollte man das nur als ein Nebenbei, als einen Zufall der Wirkung nehmen dürfen? Oder liegt es dem “Können” des Künstlers schon zu Grunde? Bezieht sich der Affekt des Künstlers auf die Kunst selbst? Oder nicht vielmehr auf das Leben? auf eine Wünschbarkeit des Lebens?
Und das viele Häßliche, Harte, Schreckliche, das die Kunst darstellt? Will sie damit vom Leben entleiden? zur Resignation stimmen, wie Schopenhauer meint?— Aber der Künstler theilt vor allem seinen Zustand in Hinsicht auf dieses Furchtbare des Lebens mit: dieser Zustand selbst ist eine Wünschbarkeit, wer ihn erlebt hat, hält ihn in höchsten Ehren und theilt ihn mit, gesetzt daß er ein mittheilsames Wesen d.h. ein Künstler ist. Die Tapferkeit vor einem mächtigen Feinde, einem erhabenen Ungemach, einem grauenhaften Problem—sie selbst ist der höhere Zustand des Lebens, den alle Kunst der Erhabenheit verherrlicht. Die kriegerische Seele feiert ihre Saturnalien in der Tragödie; das Glück des Krieges und Sieges, der herben Grausamkeit angesichts leidender und kämpfender Menschen, wie alles das dem leidgewohnten, und leidaufsuchenden Menschen zu eigen ist. [Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 24.]