Herbst 1887 9 [101-190]
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[Vgl. Ferdinand Brunetière, Études critiques sur l'histoire de la littérature française. Troisième série. Paris: 1887:270-78, 286-89.]
| (134) Rousseau: | die Regel gründend auf das Gefühl |
| die Natur als Quelle der Gerechtigkeit | |
| der Mensch vervollkommnet sich in dem Maaße, in dem er sich der Natur nähert |
(nach Voltaire, in dem Maaße, in dem er sich von der Natur entfernt
dieselben Epochen für den Einen die des Fortschritts der Humanität, für den Anderen Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit
Voltaire noch die humanità im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtù (als “hohe Cultur”), er kämpft für die Sache der honnêtes gens und de la bonne compagnie, die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft, der Künste, die Sache des Fortschritts selbst und der Civilisation.
Der Kampf gegen 1760 entbrannt: der Genfer Bürger und le seigneur de Tourney [sic.: Ferney]. Erst von da an wird Voltaire der Mann seines Jahrhunderts, der Philosoph, der Vertreter der Toleranz und der Pfeifer des Unlaubens (bis dahin nur un bel esprit) Der Neid und der Haß auf Rousseaus Erfolg trieb ihn vorwärts, “in die Höhe” —
— Pour “la canaille” un dieu remunerateur et vengeur—Voltaire.
Kritik beider Standpunkte in Hinsicht auf den Werth der Civilisation.
die social[e] Erfindung die schönste, die es giebt für Voltaire, es giebt kein höheres Ziel als sie zu unterhalten und zu vervollkommnen; eben das ist die honnêteté, die socialen Gebräuche zu achten; Tugend ein Gehorsam gegen gewisse nothwendige “Vorurtheile” zu Gunsten der Erhaltung der “Gesellschaft.”
Cultur-Missionär, Aristokrat, Vertreter der siegreichen herrschenden Stände und ihrer Werthungen. Aber Rousseau blieb Plebejer, auch als homme de lettres, das war unerhört; seine unverschämte Verachtung alles dessen, was nicht er selbst war.
Das Krankhafte an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt. (Lord Byron verwandt; auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen Groll; Zeichen der “Gemeinheit”; später, durch Venedig ins Gleichgewicht gebracht, begriff er, was mehr erleichtert und wohlthut, ... l’insouciance)
er ist stolz in Hinsicht auf das, was er ist, trotz seiner Herkunft; aber er geräth außer sich, wenn man ihn daran erinnert ...
Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. Die Rancune des Kranken; die Zeiten seines Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung, und seines Mißtrauens.
Die Vertheidigung der Providenz durch Rousseau (gegen den Pessismismus Voltaires): er brauchte Gott, um den Fluch auf die Gesellschaft und die Civilisation werfen zu können; alles mußte an sich gut sein, da Gott es geschaffen; nur der Mensch hat den Menschen verdorben. Der “gute Mensch” als Naturmensch war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma von der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und Begründetes.
Wirkung Rousseaus:
die Narrheit zur Größe gerechnet, Romantik (erstes Beispiel nicht stärkstes)
“das souveraine Recht der Passion”
“die monstruöse Erweiterung des “ich”
“das Naturgefühl”
“in der Politik hat man seit 100 Jahren einen Kranken als Führer genommen”
Romantik á la Rousseau
die Leidenschaft,
die “Natürlichkeit”
die Fascination der Verrücktheit
die Pöbel-Rancune als Richterin
die unsinnige Eitelkeit der Schwachen