Herbst 1887 9 [101-190]
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(128) | Die drei Jahrhunderte. |
Ihre verschiedene Sensibilität drückt sich am besten so aus:
| Aristokratism Descartes, | Herrschaft der Vernunft, Zeugniß von der Souverainetät des Willens |
| Feminism Rousseau, | Herrschaft des Gefühls, Zeugniß von der Souverainetät der Sinne (verlogen) |
| Animalism Schopenhauer, | Herrschaft der Begierde, Zeugniß von der Souverainetät der Animalität (redlicher, aber düster) |
Das 17. Jahrhundert ist aristokratisch, ordnend, hochmüthig gegen das Animalische, streng gegen das Herz, “ungemüthlich,” sogar ohne Gemüth, “undeutsch,” dem Burlesken und dem Natürlichen abhold, generalisirend und souverain gegen Vergangenheit: denn es glaubt an sich. Viel Raubthier au fond, viel asketische Gewöhnung, um Herr zu bleiben. Das willensstarke Jahrhundert; auch das der starken Leidenschaft.
Das 18. Jahrhundert ist vom Weibe beherrscht, schwärmerisch, geistreich, flach, aber mit einem Geiste im Dienste der Wünschbarkeit, des Herzens, libertin im Genusse des Geistigsten, alle Autoritäten unterminirend; berauscht, heiter, klar, human, falsch vor sich, viel Canaille au fond, gesellschaftlich ...
Das 19. Jahrhundert ist animalischer, unterirdischer, häßlicher, realistischer, pöbelhafter, und ebendeshalb “besser” “ehrlicher,” vor der “Wirklichkeit” jeder Art unterwürfiger, wahrer, es ist kein Zweifel: natürlicher; aber willensschwach, aber traurig und dunkel-begehrlich, aber fatalistisch. Weder vor der “Vernunft,” noch vor dem “Herzen” in Scheu und Hochachtung; tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde (Schopenhauer sagte “Wille”; aber nichts ist charakteristischer für seine Philosophie, als daß der “Wille” in ihr fehlt, die absurde Verleugnung des eigentlichen Wollens) Selbst die Moral auf einen Instinkt reduzirt (“Mitleid”)
A[uguste]. Comte ist Fortsetzung des 18. Jahrhunderts (Herrschaft von coeur über la tête, Sensualism in der Erkenntnißtheorie, altruistische Schwärmerei)
Daß die Wissenschaft in dem Grade souverain geworden ist, das beweist, wie das 19. Jahrhundert sich von der Domination der Ideale losgemacht hat. Eine gewisse “Bedürfnißlosigkeit” im Wünschen ermöglicht uns erst unsere wissenschaftliche Neugierde und Strenge—diese unsre Art Tugend ...
Die Romantik ist Nachschlag des 18. Jahrhunderts; eine Art aufgethürmtes Verlangen nach dessen Schwärmerei großen Stils (—thatsächlich ein gut Stück Schauspielerei und Selbstbetrügerei: man wollte die starke Natur, die große Leidenschaft darstellen)
Das neunzehnte Jahrhundert sucht instinktiv nach Theorien, mit denen es seine fatalistische Unterwerfung unter das Thatsächliche gerechtfertigt fühlt. Schon Hegels Erfolg gegen die “Empfindsamkeit” und den romantischen Idealismus lag im Fatalistischen seiner Denkweise, in seinem Glauben an die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen, in seiner Rechtfertigung des wirklichen “Staates” (an Stelle von “Menschheit” usw.) Schopenhauer: wir sind etwas Dummes und, besten Falls, sogar etwas Sich-selbst-aufhebendes. Erfolg des Determinismus, der genealogischen Ableitung der früher als absolut geltenden Verbindlichkeiten, die Lehre vom milieu und der Anpassung, die Reduktion des Willens auf Reflexbewegungen, die Leugnung des Willens als “wirkende Ursache”; endlich—eine wirkliche Umtaufung: man sieht so wenig Wille, daß das Wort frei wird, um etwas Anderes zu bezeichnen.
Weitere Theorien: die Lehre von der objektiven, “willenslosen” Betrachtung, als einzigen Wegs zur Wahrheit; auch zur Schönheit; der Mechanismus, die ausrechenbare Starrheit des mechanischen Prozesses; der angebliche “naturalisme,” Elimination des wählenden richtenden, interpretirenden Subjekts als Princip — Auch der Glaube an das “Genie,” um ein Recht auf Unterwerfung zu haben
Kant, mit seiner “praktischen Vernunft,” mit seinem Moral-Fanatism ist ganz 18. Jahrhundert; noch völlig außerhalb der historischen Bewegung; ohne jeden Blick für die Wirklichkeit seiner Zeit z.B. Revolution; unberührt von der griechischen Philosophie; Phantast des Pflichtbegriffs; Sensualist; mit dem Hinterhang der dogmatischen Verwöhnung—die Rückbewegung auf Kant in unserem Jahrhundert ist eine Rückbewegung zum 18. Jahrhundert: man will sich ein Recht wieder auf die alten Ideale und die alte Schwärmerei verschaffen,—darum eine Erkenntnißtheorie, welche “Grenzen setzt,” d.h. erlaubt, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen ...
Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall,—vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltirt, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.
Goethe sein 18. Jahrhundert in sich findend und bekämpfend: die Gefühlsamkeit, die Naturschwärmerei, das Unhistorische, das Idealistische, das Unpraktische und Unreale des Revolutionären; er nimmt die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike zu Hülfe, insgleichen Spinoza (als höchsten Realisten); vor allem die praktische Thätigkeit mit lauter ganz festen Horizonten; er separirt sich nicht vom Leben; er ist nicht zaghaft und nimmt soviel als möglich auf sich, über sich, in sich,—er will Totalität, er bekämpft das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille, er disciplinirt sich, er bildet sich ... er sagt Ja zu allen großen Realisten (Napoleon—Goethes höchstes Erlebniß) [Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 49.]