Herbst 1887 9 [101-190]
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(73) NB. den Juden Muth zu machen zu neuen Eigenschaften, nachdem sie in neue Daseinsbedingungen übergetreten sind: so war es meinem Instinkte allein gemäß, und auf diesem Wege habe ich mich auch durch eine giftträgerische Gegenbewegung, die jetzt gerade obenauf ist, nicht irre machen lassen.
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[Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 7.]
(74) Das Beschreibende, das Pittoreske als Symptome des Nihilism (in Künsten und in der Psychologie)
Keine Colportage-Psychologie treiben! Nie beobachten, um zu beobachten! Das giebt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertriebenes. Erleben als Erlebenwollen; es geräth nicht, wenn man nach sich selbst dabei hinblickt; der geborene Psycholog hütet sich, wie der geborene Maler, zu sehn, um zu sehn; er arbeitet nie “nach der Natur”—er überläßt das Durchsieben und Ausdrücken des Erlebten, des “Falls,” der “Natur” seinem Instinkt,—das Allgemeine kommt ihm als solches zum Bewußtsein, nicht das willkürliche Abstrahiren von bestimmten Fällen. Wer es anders macht, wie die beutegierigen romanciers in Paris, welche gleichsam der Wirklichkeit auflauern und jeden Tag eine Handvoll Kuriositäten nach Hause bringen: was wird schließlich daraus? Ein Mosaik besten Falls, etwas Zusammenaddirtes, Farbenschreiendes, Unruhiges (wie bei den Frères de Goncourt).— [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire 1862-1865. Paris: Charpentier, 1887.] Die “Natur,” im künstlerischen Sinne gesprochen, ist niemals “wahr”; sie übertreibt, sie verzerrt, sie läßt Lücken. Das “Studium nach der Natur” ist ein Zeichen von Unterwerfung, von Schwäche, eine Art Fatalism, die eines Künstlers unwürdig ist. Sehen, was ist—das gehört einer spezifisch anderen Art von Geistern zu, den Thatsächlichen, den Feststellern: hat man diesen Sinn in aller Stärke entwickelt, so ist er anti-künstlerisch an sich.
Die descriptive Musik; der Wirklichkeit es überlassen, zu wirken ...
Alle diese Art[en] Kunst sind leichter, nachmachbarer; nach ihnen greifen die Gering-Begabten. Appell an die Instinkte; suggestive Kunst.