Herbst 1887 9 [101-190]
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(129) Goethe: ein großartiger Versuch, das 18. Jahrhundert zu überwinden (Rückkehr zu einer Art Renaissance-Mensch), eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts: er hat dessen stärkste Triebe in sich entfesselt und zur Consequenz getrieben. Aber was er für seine Person erreichte, war nicht unser 19. Jahrhundert ...
— er concipirt einen hoch gebildeten, sich selbst im Zaum habenden, vor sich selbst ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Reichthum der Seele und der Natürlichkeit (bis zum Burlesken und Buffonesken) zu gönnen wagen darf, weil er stark genug dazu ist; den Menschen der Toleranz nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde geht, zu seiner Förderung zu gebrauchen weiß, den umfänglichsten, aber darum nicht chaotischen Menschen. Sein Complement ist Napoleon (im kleinerem Maaße Friedrich der Grosse), der ebenfalls den Kampf gegen das 18. Jahrhundert übernimmt.
NB In einem gewissen Sinn hat das 19. Jahrhundert alles das auch erstrebt, was Goethe für sich gethan hat: eine Universalität des Verstehens, Gutheißens, An-sich-herankommen-lassens ist ihm zu eigen; ein verwegener Realismus, eine Ehrfurcht vor den Thatsachen—wie kommt es, daß das Gesammtresultat kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein Nihilismus, eine Erfolglosigkeit, welche fortwährend wieder zum 18. Jahrhundert zurückgreifen lehrt (z.B. als Romantik, als Altruismus, als Femininismus, als Natural[ismus])