Herbst 1887 9 [101-190]
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(72) | Entwicklung des Pessimismus zum Nihilism. |
Entnatürlichung der Werthe. Scholastik der Werthe. Die Werthe, lösgelöst, idealistisch, statt das Thun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend gegen das Thun.
Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich
Die verworfene Welt, Angesichts einer künstlich erbauten, “wahren, werthvollen”
Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die “wahre Welt” gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Conto ihrer Verwerflichkeit
Damit ist der Nihilism da: man hat die richtenden Werthe übrig behalten—und nichts weiter!
Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:
1) die Schwachen zerbrechen daran
2) die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht
3) die Stärksten überwinden die richtenden Werthe.
— das zusammen macht das tragische Zeitalter aus
Zur Kritik des Pessimism.
Das “Übergewicht von Leid über Lust” oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum N[ihilismus] nihilistisch ...
denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.
Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen:—für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebellsachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthighaben dieses Übergewichts
“Das Leben lohnt sich nicht”; “Resignation” “warum sind die Thränen? ...”— eine schwächliche und sentimentale Denkweise. “un monstre gai vaut mieux qu’un sentimental ennuyeux.” [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. Paris: G. Charpentier, 1882:101. Vgl. 4. November 1887, Brief an Heinrich Köselitz: "Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche canaille; aber ich bin der Meinung Galiani's: 'un monstre gai vaut mieux / qu'un sentimental ennuyeux.' Voltaire ist nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann ..."]
Der Pessimismus der Thatkräftigen: das “wozu?” nach einem furchtbaren Ringen, selbst Siegen. Daß irgend Etwas hundert Mal wichtiger ist, als die Frage, ob wir uns wohl oder schlecht befinden: Grundinstinkt aller starken Naturen—und folglich auch, ob sich die Anderen gut oder schlecht befinden. Kurz, daß wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die große Leidenschaft.