Herbst 1887 10 [1-100]
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(154) | Religion |
In dem inneren Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse?— Er concipirt es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken,—zu präveniren.
— Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint aus, als sinnvoll aus ...
— man interpretirt vor allem das Schlimme als “verdient”: man rechtfertigt das Böse als Strafe ...
— In summa: man unterwirft sich ihm: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse.
— der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt verzichtleisten, es zu bekämpfen.
Nun stellt die ganze Geschichte der Cultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Cultur, das heißt eben berechnen lernen, causal denken lernen, präveniren lernen, an Nothwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachsthum der Cultur wird dem Menschen jene primitive Unterwerfungs-form unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene “Rechtfertigung des Übels” entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das “Übel”—er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt,—wo Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt ...
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Cultur—ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke.
Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine “Rechtfertigung des Übels,” er perhorreszirt gerade das “Rechtfertigen”: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nöthig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört ...
In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer “Rechtfertigung” d.h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch.
Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermuth zu Gunsten des Thiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphirendste Form der Geistigkeit.
Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen:—er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen.
Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so thut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchstform erkennen lassen.
Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodicee d.h. mit einem absoluten Jasagen zu der Welt, aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat: und dergestalt zur Conception dieser Welt als des thatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals ...