Herbst 1887 10 [1-100]
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(215) Das christlich-jüdische Leben: Hier überwog nicht das ressentiment. Erst die großen Verfolgungen mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben—sowohl die Gluth der Liebe als die des Hasses.
Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert sieht, dann wird man aggressiv; man verdankt den Sieg des Christenthums seinen Verfolgern.
NB Die Asketik im Christenthum ist nicht spezifisch: das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das Christenthum hinein; überall dort, wo es auch ohne Christenthum Asketik gab.
NB Das hypochondrische Christenthum, die Gewissens-Thierquälerei und Folterung ist insgleichen nur einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche Werthe Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christenthum selbst. Das Christenthum hat alle Art Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben das ist sein Wesen: Christenthum ist ein Typus der Décadence.
Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm-gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört eben dahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden.
Das neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Werth zu haben, ja allen Werth zu haben, hat in der That etwas Empörendes,—auch heute noch.