Herbst 1887 10 [1-100]
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(179) Das Verbrechen gehört unter den Begriff: “Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung.” Man “bestraft” einen Aufständischen nicht: man unterdrückt ihn. Ein Aufständischer kann ein erbärmlicher und verächtlicher Mensch sein; an sich ist an einem Aufstande nichts zu verachten—und in Hinsicht auf unsere Art Gesellschaft aufständisch zu sein, erniedrigt an sich noch nicht den Werth eines Menschen. Es giebt Fälle, wo man einen solchen Aufständischen darum selbst zu ehren hätte, weil er an unsrer Gesellschaft Etwas empfindet, gegen das der Krieg noth thut: wo er uns aus dem Schlummer weckt.
Damit, daß der Verbrecher etwas Einzelnes thut an einem Einzelnen, ist nicht widerlegt, daß sein ganzer Instinkt gegen die ganze Ordnung im Kriegszustande ist: die That als bloßes Symptom
Man soll den Begriff der Strafe reduziren auf den Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaßregeln gegen den Niedergeworfenen (ganze oder halbe Gefangenschaft) Aber man soll nicht Verachtung durch die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein Mensch, der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit risquirt—ein Mann des Muths. Man soll insgleichen nicht die Strafe als Buße nehmen; oder als eine Abzahlung, wie als ob es ein Tauschverhältniß gäbe zwischen Schuld und Strafe,—die Strafe reinigt nicht, denn das Verbrechen beschmutzt nicht.
Man soll dem Verbrecher die Möglichkeit nicht abschließen, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen: gesetzt, daß er nicht zur Rasse des Verbrecherthums gehört. In letzterem Falle soll man ihm den Krieg machen, noch bevor er etwas Feindseliges gethan hat (erste Operation, sobald man ihn in der Gewalt hat: ihn kastriren).
Man soll dem Verbrecher nicht seine schlechten Manieren, noch den niedrigen Stand seiner Intelligenz zum Nachtheil anrechnen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß er sich selbst mißversteht; namentlich ist sein revoltirter Instinkt, die rancune des déclassé oft nicht sich zum Bewußtsein gelangt, faute de lecture; daß er unter dem Eindruck der Furcht, des Mißerfolgs seine That verleumdet und verunehrt: von jenen Fällen noch ganz abgesehn, wo, psychologisch nachgerechnet, der Verbrecher einem unverstandnen Triebe nachgiebt und seiner That durch eine Nebenhandlung ein falsches Motiv unterschiebt (etwa durch eine Beraubung, während es ihm am Blute lag ..)
Man soll sich hüten, den Werth eines Menschen nach einer einzelnen That zu behandeln. Davor hat Napoleon gewarnt. Namentlich sind die Hautrelief-Thaten ganz besonders insignificant. Wenn unser Einer kein Verbrechen z.B. keinen Mord auf dem Gewissen hat—woran liegt es? Daß uns ein Paar begünstigende Umstände dafür gefehlt haben. Und thäten wir es, was wäre damit an unserm Werthe bezeichnet? Wäre unser Werth verringert, wenn wir ein paar Verbrechen begiengen? Im Gegentheil: es ist nicht Jeder im Stande, ein paar Verbrechen zu begehen. An sich würde man uns verachten, wenn man uns nicht die Kraft zutraute, unter Umständen einen Menschen zu tödten. Fast in allen Verbrechen drücken sich zugleich Eigenschaften aus, welche an einem Manne nicht fehlen sollen. Nicht mit Unrecht hat Dostoiewsky von den Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten den stärksten und werthvollsten Bestandtheil des russischen Volkes. Wenn bei uns der Verbrecher eine schlecht ernährte und verkümmerte Pflanze ist, so gereicht dies unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Unehre; in der Zeit der Renaissance gedieh der Verbrecher und erwarb sich seine eigne Art von Tugend,—Tugend im Renaissancestile freilich, virtù, moralinfreie Tugend.
Man vermag nur solche Menschen in die Höhe [zu] bringen, die man nicht mit Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgend ein Verbrechen.