Herbst 1887 10 [1-100]
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(202) Der Individualism ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des “Willens zur Macht”; hier scheint es dem Einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei diese die des Staates oder der Kirche ..) Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als Einzelner; er vertritt alle Einzelnen gegen die Gesammtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem Einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Einzahl gegen die Gesammtheit.
Der Socialism ist bloß ein Agitationsmittel des Individualisten: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesammtaktion organisiren muß, zu einer “Macht.” Aber was er will, ist nicht die Societät als Zweck des Einzelnen, sondern die Societät als Mittel zur Ermöglichung vieler Einzelnen:— Das ist der Instinkt der Socialisten, über den sie sich häufig betrügen (—abgesehn, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen) Die altruistische Moral-predigt im Dienste des Individual-Egoism: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Anarchism ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Socialism; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu fasciniren und zu terrorisiren; vor allem—er zieht die Muthigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geiste.
Trotzalledem: Der Individual[ismus] ist die bescheidenste Stufe des W[illens] z[ur] M[acht].
Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft; der Einzelne setzt sich nicht ohne Weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seines Gleichen,—er hebt Andere von sich ab. Auf den Individualism folgt die Glieder- [und] Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht bethätigend, zwischen diesen Machtcentren Reibung, Krieg, Erkenntniß beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluss: eine Rangordnung.
| NB. | 1. | die Individuen machen sich frei |
2. | sie treten in Kampf, sie kommen über “Gleichheit der Rechte” überein (—Gerechtigkeit—) als Ziel | |
3. | ist das erreicht, so treten die thatsächlichen Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im Großen Ganzen der Friede herrscht und viel kleinere Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast = 0 waren). Jetzt organisiren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von Neuem. |
NB. man will Freiheit, so lange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man “Gerechtigkeit” d.h. gleiche Macht