Herbst 1887 10 [1-100]
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(182) | Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert |
(das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der généreux sentiments)
Nicht “Rückkehr zur Natur”: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und wider natürlicher Werthe ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe—er kehrt nie “zurück” ... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur.
Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.
Natürlicher ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müssigen: man macht Jagd auf einander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hinderniß und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt
Natürlicher ist unsere Stellung zur Erkenntniß: wir haben die libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntniß, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Moral. Principien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner “Pflicht” zu reden. Aber man schätzt eine hülfreiche wohlwollende Gesinnung (—man sieht im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest—) Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe.
Natürlicher ist unsere Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.
Natürlicher ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir concipiren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer “Unschuld” “Vernunft” “Schönheit” willen, wir haben sie hübsch “verteufelt” und “verdummt.” Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne sich zu erregen.
In summa: es giebt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn, ohne Erbitterung: im Gegentheil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten.
Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Corruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der “Natur” angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Civilisation [gemacht hat], welche er perhorreszirte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich (Dancourt Le Sage Regnard). [Florent Carton Dancourt (1661-1725), Alain René Lesage (1668-1747), Jean François Regnard (1655-1709).]