Herbst 1887 10 [1-100]
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(185) | Geschichte der Vermoralisirung und Entmoralisirung. |
Erster Satz: es giebt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet.
Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z.B. Kant zugab und das Christenthum insgleichen)—sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständniß, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingirt, das gar nicht existirt. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz “moralisch” und “unmoralisch” aufgebracht hat, muß man sagen:
es giebt nur unmoralische Absichten und Handlungen.
Zweiter Satz. Diese ganze Unterscheidung “moralisch” und “unmoralisch” geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität sind,—kurz daß es eine solche giebt, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurtheilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen bezieht, die freien.
Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär; die Welt, auf welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existirt gar nicht
es giebt weder moralische, noch unmoralische Handlungen.
Der psychologische Irrthum, aus dem der Gegensatz-Begriff “moralisch” und “unmoralisch” entstanden ist.
“selbstlos,” “unegoistisch,” “selbstverleugnend”—alles unreal, fingirt.
Fehlerhafter Dogmatism in Betreff des “ego”: dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum “Nicht-ich”; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisirung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen Werth-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-ich. Es schien handgreiflich, daß der Werth des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure “Nicht-ich” zu beziehn resp. sich ihm unterzuordnen und um seinetwillen zu existiren.— Hier waren die Heerden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Werth in der Selbst-Verneinung liegen.
Also: 1) die falsche Verselbständigung des “Individuums,” als Atom
2) die Heerden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorrescirt und als feindlich empfindet
3) als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels
4) Nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasirte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum.
5) man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische Triebe giebt, man verwarf alle selbstischen man verlangte die unselbstischen
6) Folge davon: was hatte man gethan? Man hatte die stärksten natürlichsten, mehr noch die einzig realen Triebe in Bann gethan—man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswerth zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe leugnen
ungeheure Fälscherei in psychologicis. Selbst jede Art “Selbstzufriedenheit” hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sie sub specie boni mißverstand und zurecht legte.
Umgekehrt: jene species, welche ihren Vortheil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Heerden-Instinkts z.B. die Priester und Philosophen) wurde fein und psychologisch-scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: “Alles ist Sünde; auch unsere Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.” Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig, Handlungen zu thun, welche “gut” sind.
NB. Das Christenthum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung des Blicks: La Rochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen und ihre Werth-Gleichheit in der Hauptsache (—alle unmoralisch)
Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getödtet ist—die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, “vollkommen” zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen ist.
Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des “guten Menschen” mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisirt.
Das Wüthen gegen die Instinkte des Lebens als “heilig,” verehrungswürdig.
Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal.
Almosen, Mitleiden; Aufopferung, Ritterthum; Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit; moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal.
Man kommt vorwärts: die verleumdeten Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z.B. Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter “der Freiheit des Evangeliums”)—man tauft sie um auf heilige Namen.
: die verleumdeten Instinkte suchen sich als nothwendig zu beweisen, damit die Tugendhaften überhaupt möglich sind: man muß vivre, pour vivre pour autrui. Egoismus als Mittel zum Zweck ...
: man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen, wie für die anderen (vom Gesichtspunkt des Nutzens)
: man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes über den altruist[ischen], nützlicher in Hinsicht auf das Glück der Meisten, oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Ego, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (“Gesammt-Nutzen der Menschheit”)
: man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur.
: man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes in irgend einer Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist ...
: endlich, man begreift, daß die altruistischen Handlungen nur eine species der egoistischen sind,—und daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad individueller Macht und Personalität. Kurz, daß man, indem man den Menschen böser macht, man ihn besser macht,—und daß man das Eine, nicht ohne das Andere ist ... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der Psychologie der bisher[igen] M[enschen].
Folgerungen: es giebt nur unmoralische Absichten und Handlungen
die sogenannten moralischen sind also als Unmoralitäten nachzuweisen.
(—dies die Aufgabe vom Tractatus politicus)
(—die Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen zur Macht: wesensgleich
(—der Begriff des Lebens—es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatze (von “gut und böse”) Machtgrade von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden
(—Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw.
Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus; Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch, daß man sie translocirt—ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsere Werthschätzungen eskamotiren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistischgedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus angreifen und unterminiren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung von An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.