Herbst 1887 10 [1-100]
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(200) Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, alles, was sie beanspruchte, als eine göttliche Satzung, als Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentiren .. insgleichen, was dazu diente, Israel zu erhalten, seine Existenz-Ermöglichung (z.B. eine Summe von Werken: Beschneidung, Opferkult als Centrum des nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als “Gott” einzuführen.— Dieser Prozeß setzt sich fort; innerhalb des Judenthums, wo die Nothwendigkeit der “Werke” nicht empfunden wurde (nämlich als Abscheidung gegen Außen) konnte eine priesterliche Art Mensch concipirt werden, die sich verhält wie die “vornehme Natur” zum Aristokraten; eine kastenlose und gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht auf die “Werke,” sondern die “Gesinnung” den Werth legte ...
Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine bestimmte Art von Seele durchzusetzen, gleichsam ein Volks-Aufstand innerhalb eines priesterlichen Volkes,—eine pietistische Bewegung von Unten (Sünder Zöllner Weiber Kranke). Jesus von Nazareth war das Zeichen, an dem sie sich erkannten. Und wieder, um an sich glauben zu können, brauchen sie eine theologische Transfiguration: nichts Geringeres als “der Sohn Gottes” thut ihnen Noth, um sich Glauben zu schaffen ... Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christenthum als sein cardinalstes Ereigniß erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judenthums entstehn: dessen Hauptthat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduziren: davon ist das Christenthum die zweite Potenz.