Herbst 1887 10 [1-100]
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(212) Das christliche Leben, wie es als Ideal dem Paulus vorschwebt und von ihm gepredigt wird, ist das jüdische Leben, nicht vielleicht das der herrschenden Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in der Diaspora lebenden Juden. Es ist erlebt, gesehn, aus dem Verehrtesten und Geliebtesten heraus—dieses Ideal: es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse, vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben. Dies ist die That des Paulus: er erkannte die Anwendbarkeit des jüdischen Privatlebens auf das Privatleben der kleinen Leute von Überall. Vom Judenthum her wußte er, wie eine Art Mensch sich durchsetzt, ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht auf Macht haben zu dürfen. Ein Glaube an ein absolutes Vorrecht, das Glück der Auserwählten, welches jede Erbärmlichkeit und Entbehrung adelt—nämlich als Gegenzahlung und Sporn, die Tugenden der Familie, der kleinen Congregation, der unbedingte Ernst in Einem, in der Unantastbarkeit ihres Lebens durch die Gegner, zwischen denen sie leben—und alles Besänftigende, Mildernde, Erquickende, Gebet, Musik, gemeinsame Mahlzeiten und Herzensergießungen, Geduld, Nachsicht, Hülfe und Dienstbarkeit gegen einander, vor Allem jenes Stillehalten der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht, Haß, Neid, Rache nicht obenauf kommen ... Der Asketism ist nicht das Wesen dieses Lebens; die Sünde ist nur in dem Sinn im Vordergrund des Bewußtseins, als sie die beständige Nähe ihrer Erlöstheit und Zurückgekauftheit bedeutet (—so ist es schon jüdisch: mit der Sünde aber wird ein Jude selber fertig, dazu eben hatte er seinen Glauben; es ist das, womit man allein ganz fertig wird; und gesetzt, daß alles Unglück im Verhältniß zur Sünde steht (oder zur Sündhaftigkeit), so giebt es ein remedium gegen alles Unglück selbst—und das Unglück ist außerdem gerechtfertigt, nicht sinnlos ...