Frühjahr 1888 14 [1-100]
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Gegenbewegung Kunst
Geburt der Tragoedie
III
Diese beiden Kunst-Naturgewalten: werden von Nietzsche als das Dionysische und das Apollinische einander entgegengesetzt: er behauptet, daß — — — Mit dem Wort “dionysisch” ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens, das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens ... Mit dem Wort apollinisch ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen “Individuum,” zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz.
An ihren Antagonismus ist die Fortentwicklung der Kunst eben so nothwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens
der Ursprung der Tragödie und Komödie als ein Gegenwärtig-sehen eines göttlichen Typus im Zustand einer Gesammt-Verzückung, als ein Miterleben der Ortslegende, des Besuchs, Wunders, Stiftungsakts, des “Dramas” ( —
Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Räthsel, von dem N[ietzsche] sich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Nietzsche bemühte sich im Grunde um nichts als um zu errathen, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische Grieche nöthig hatte, apollinisch zu werden, das heißt: seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, sowenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte—sie ist erobert, gewollt, erkämpft—sie ist sein Sieg ...