Frühjahr 1888 14 [1-100]
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Ursprung der Moral-Werthe.
Der Egoismus ist so viel werth als der physiologisch werth ist, der ihn hat.
Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral [auffaßt], etwas das mit der Geburt beginnt): stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Werth in der That außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachsthums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgerathenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus giebt) Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt ihm wenig Werth zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathenen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoism (—der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert—) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der “Liebe,” der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in That und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werthe sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen,—sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demuth und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergiebt sich, warum die herrschenden Classen oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Cultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, “den Gott am Kreuze” aufrecht erhalten haben.
Das Übergewicht einer altruistischen Werthungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißrathen-sein. Das Werthurtheil auf unterstem Grunde sagt hier: “ich bin nicht viel werth”: ein bloß physiologisches Werthurtheil, noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungscentren). Dies Werthurtheil übersetzt sich, je nach der Cultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urtheil (—die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urtheile ist immer ein Zeichen niedriger Cultur—): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff “Werth” überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner “Schuld” (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Socialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden, an dem Jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte des Christen, der auch das Sichschlechtbefinden und Mißrathen besser zu ertragen glaubt, wenn er Jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des ressentiment ist in beiden Fällen, erscheint hier als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen den fremden, wie beim Socialisten, ergiebt sich dergestalt als ein Werthurtheil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle ... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoism (des eigenen oder eines fremden) noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Cultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.