Frühjahr 1888 14 [1-100]
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| Wille zur Macht | Philosophie |
Machtquanta. Kritik des Mechanismus |
entfernen wir hier die zwei populären Begriffe “Nothwendigkeit” und “Gesetz”: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. “Die Dinge” betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es giebt keine Dinge (—das ist unsere Fiktion) sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Nothwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges ...
Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht—darum handelt [es] sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserem Hausgebrauch der Berechnung, das in Formeln von “Gesetzen” auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine “Moralität” in die Welt gelegt, daß wir sie [als] gehorsam fingiren —
Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz. Gerade, daß es kein mezzo termine giebt, darauf beruht die Berechenbarkeit.
Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus,—es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum “Wille zur Macht”: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken.
Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt—eine Welt für’s Auge—ist der Begriff “Bewegung.” Hier ist immer subintelligirt, daß etwas bewegt wird,—hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt,—d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das Thun und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.
Wir haben Einheiten nöthig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem “Ich” begriff,—unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff “Ding” gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um den Mechanismus der Welt theoretisch aufrecht zu erhalten, immer die Clausel zu machen, in wie fern wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unserer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms = Einheit (aus unserer psychischen “Erfahrung” herstammend): sie hat ein Sinnen-Vorurtheil und ein psychologisches Vorurtheil zu ihrer Voraussetzung.
Die mechanistische Welt ist so imaginirt, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als “bewegt”)
so, daß sie berechnet werden kann,—daß Einheiten fingirt sind,
so daß ursächliche Einheiten fingirt sind, “Dinge” (Atome), deren Wirkung constant bleibt (—Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff)
| Zahlbegriff. |
| Dingbegriff (Subjektbegriff |
| Thätigkeitsbegriff (Trennung von Ursache-sein und Wirken) |
| Bewegung (Auge und Getast) |
| : daß alle Wirkung Bewegung ist |
| : daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird |
Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Subjektbegriffs, des Bewegungsbegriffs: wir haben unser Auge, unsere Psychologie immer noch darin.
Eliminiren wir diese Zuthaten: so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem “Wirken” auf dieselben—der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt ...
die Mechanik formulirt Folgeerscheinungen noch dazu semiotisch in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln, sie berührt die ursächliche Kraft nicht ... [Vgl. Otto Liebmann, Gedanken und Thatsachen: philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. H. 1: Die Arten der Nothwendigkeit.— Die mechanische Naturerklärung.— Idee und Entelechie. Straßburg: Trübner, 1882:85-86.]