Frühjahr 1888 14 [1-100]
14 [61]
Wille zur Macht als Kunst
“Musik”—und der große Styl
Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den “schönen Gefühlen” die er erregt: das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er will ... Über das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden; Nothwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden—: das ist hier die große Ambition. Mit ihr stößt man zurück; nichts reizt mehr die Liebe zu solchen Gewaltmenschen—eine Einöde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen Frevel ...
Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf? .. Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleicht in jene Cultur, wo das Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende gieng? Widerspräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik,—dem “Weibe” in unserer Musik? ...
Ich berühre hier eine Cardinal-Frage: wohin gehört unsere ganze Musik? Die Zeitalter des klassischen Geschmacks kennen nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als die Renaissance-Welt ihren Abend erreichte, als die “Freiheit” aus den Sitten und selbst aus den Wünschen davon war: gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein? Und anders ausgedrückt eine Décadence-Kunst zu sein? etwa wie der Barockstil eine Décadence-Kunst ist? Ist sie die Schwester des Barockstils, da sie jedenfalls seine Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne Musik nicht schon décadence? ...
Die Musik ist Gegenrenaissance in der Kunst: sie ist auch décadence als Gesellschafts-Ausdruck
Ich habe schon früher einmal den Finger auf diese Frage gelegt: ob unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist? ob sie nicht die Nächstverwandte des Barockstils ist? ob sie nicht im Widerspruch zu allem klassischen Geschmack gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Classicität von selbst verböte? ...
Auf diese Werthfrage ersten Ranges würde die Antwort nicht zweifelhaft sein dürfen, wenn die Thatsache richtig abgeschätzt worden wäre, daß die Musik als Romantik ihre höchste Reife und Fülle erlangt—noch einmal als Reaktions-Bewegung gegen die Classicität ...
Mozart—eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem Ernste ... Beethoven der erste große Romantiker, im Sinne des französischen Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte große Romantiker ist ... beides instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des strengen Stils,—um vom “großen” hier nicht zu reden ... beides — — —