Frühjahr 1888 14 [1-100]
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Das Problem des Socrates.
Die beiden Gegensätze:
| } | gemessen an dem Gesetz des Lebens |
: in wiefern die sokratische Gesinnung ein Phänomen der décadence ist
: in wiefern aber noch eine starke Gesundheit und Kraft im ganzen Habitus, in der Dialektik und Tüchtigkeit, Straffheit des wissenschaftlichen Menschen sich zeigt (—die Gesundheit des Plebejers dessen Bosheit, esprit frondeur dessen Scharfsinn dessen Canaille au fond im Zaum gehalten durch die Klugheit: “häßlich”
| Verhäßlichung: |
| die Selbstverhöhnung |
| die dialektische Dürre |
| die Klugheit als Tyrann gegen “den Tyrannen” (den Instinkt) |
| es ist alles übertrieben, excentrisch, Carikatur an Sokrates, ein buffo, mit den Instinkten Voltaires im Leibe; |
| — | er entdeckt eine neue Art Agon — |
| — | er ist der erste Fechtmeister in den vornehmen Kreisen Athens |
| — | er vertritt nichts als die höchste Klugheit: er nennt sie “Tugend” (—er errieth sie als Rettung: es stand ihm nicht frei, klug zu sein, es war de rigueur |
| — | sich in Gewalt haben, um mit Gründen und nicht mit Affekten in den Kampf zu treten—die List des Spinoza—das Aufdröseln der Affekt-Irrthümer ... entdecken, wie man Jeden fängt, den man in Affekt bringt, [entdecken,] daß der Affekt unlogisch prozedirt ... Übung in der Selbstverspottung, um das Rancune-Gefühl in der Wurzel zu schädigen |
Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen Zuständen das sokratische Problem abzuleiten ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitäts-Lehre hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder los ...
Problem des Sokrates. Die Klugheit, Helle, Härte und Logicität als Waffe wider die Wildheit der Triebe. Letztere müssen gefährlich und untergangdrohend sein: sonst hat es keinen Sinn, die Klugheit bis zu dieser Tyrannei auszubilden. Aus der Klugheit einen Tyrannen machen: aber dazu müssen die Triebe Tyrannen sein. Dies das Problem.— Es war sehr zeitgemäß damals. Vernunft wurde = Tugend = Glück.
absoluter Mangel an objektiven Interessen: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem [zu] fühlen
Akustische Hallucinationen bei Socrates: morbides Element
Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geistreich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Socrates Moral-Monoman ist?
Alle “praktische” Philosophie tritt in Nothlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Nothstands-Zeichen
Lösung: die griechischen Philosophen stehen auf der gleichen Grundthatsache ihrer inneren Erfahrungen, wie Sokrates: 5 Schritt weit vom Exceß, von der Anarchie, von der Ausschweifung, alles Décadence-Menschen. Sie empfinden ihn als Arzt:
Lösung: Die Wildheit und Anarchie der Instinkte bei Sokrates ist ein décadence-Symptom. Die Superfötation der Logik und der Vernunft-Helligkeit insgleichen. Beide sind Abnormitäten, beide gehören zu einander
Logik als Wille zur Macht, zur Selbstherrschaft, zum “Glück”
Kritik. Die décadence verräth sich in dieser Präoccupation des “Glücks” (d.h. des “Heils der Seele” d.h. seinen Zustand als Gefahr empfinden)
ihr Fanatismus des Interesses für “Glück” zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zu Grunde gehen war die Alternative vor der sie alle standen
der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten ...