November 1887 - März 1888 11 [301-417]
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Hier ist jedes Wort Symbol; es giebt im Grunde keine Realität mehr. Die Gefahr ist außerordentlich, sich über diese Symbole zu vergreifen. Fast alle kirchlichen Begriffe und Werthungen führen irre: man kann das neue Testament gar nicht gründlicher mißverstehen als es die Kirche mißverstanden hat. Ihr fehlten alle Voraussetzungen zu einem Verständniß: die Historiker-Neutralität, welche sich den Teufel darum kümmert, ob “das Heil der Seele” am Worte hängt
Die Kirche hat nie den guten Willen gehabt, das neue Testament zu verstehen: sie hat sich mit ihm beweisen wollen. Sie suchte und sucht hinter demselben ein theologisches System: sie setzt es voraus,—sie glaubt an die Eine Wahrheit. Es bedurfte erst des neunzehnten Jahrhunderts—le siècle de l’irrespect [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 1: 1851-1861. Paris: Charpentier, 1887:63.]—um einige der vorläufigsten Bedingungen wieder zu gewinnen, um das Buch als Buch (und nicht als Wahrheit) zu lesen, um diese Geschichte nicht als “heilige Geschichte,” sondern als eine Teufelei von Fabel, Zurechtmachung, Fälschung, Palimpsest, Wirrwarr, kurz als Realität wieder zu erkennen ...
Man giebt sich nicht genug Rechenschaft darüber, in welcher Barbarei der Begriffe wir Europäer noch leben.
NB: Daß man hat glauben können, “das Heil der Seele” hänge an einem Buche! ... Und man sagt mir, man glaube das heute noch.
Was hilft alle wissenschaftliche Erziehung, alle Kritik und Hermeneutik, wenn ein solcher Widersinn von Bibel-Auslegung, wie ihn die Kirche aufrecht erhält, noch nicht die Schamröthe zur Leibfarbe gemacht hat?