November 1887 - März 1888 11 [301-417]
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Aus J. Wellhausen
Gerechtigkeit als sociales Erforderniß:
“die Gerechtigkeit der Bergpredigt kann erst an die Reihe kommen, wenn die bürgerliche Rechtsordnung selbstverständlich ist” ...
die Juden haben mit dem Hochmuth einer geistlichen Aristokratie als Fundament, auf dem ihr künstliches Gebilde von Theokratie erst möglich war, den Staat verachtet ... Ohne den Staat kann keine “Kirche” bestehen ... Die Fremdherrschaft hält das Pathos der Distanz aufrecht.
die Stufen der Entnatürlichung:
: durch die Aufrichtung des Königthums gab es erst eine Nation, eine Einheit, ein Gesammt-Selbstbewußtsein: aber damit war der “Gott der Wüste” und ebenso der (Kanaaniten-) übernommene Naturgott des Ackerbaus und der Viehzucht (Baal-Dionysus) — — — Der Festcultus blieb zwar noch lange halb-heidnisch; aber bezog sich immer mehr auf die Schicksale der Nation und streifte seinen Naturcharakter ab. Javeh zu Volk und Reich in nothwendiger Beziehung: dieser Glaube stand auch den schlimmsten Götzendienern fest: von Niemandem anderen kam Sieg und Heil. Der bürgerliche Staat war das Wunder, war “die Hülfe Gottes”: “die obrigkeitliche Vorsehung” blieb ihnen ein Ideal (—offenbar weil sie ihnen fehlte ...)
Als das Reich in Spaltung und Gefahr geräth, als man in einer Anarchie und äußeren Zertrümmerung fortlebt, in Furcht vor dem Assyrer, träumt man um so stärker die Wiederkehr des vollkommenen königlichen Regiments, des nationalen Staates in aller Unabhängigkeit: diese Art Phantasie ist die prophetische. Jesaia ist höchster Typus mit seinen sogenannten messianischen Weissagungen—Propheten waren Kritiker und Satyriker, Anarchisten; im Grunde hatten sie nichts zu sagen, die Leitung war in anderen Händen; sie wollen die Wiederaufrichtung des bürgerlichen Staates; sie wünschen durchaus kein “goldenes Zeitalter,” sondern ein straffes und strenges Regiment, einen Fürsten mit militärischen und religiösen Instinkten, der das Vertrauen in Jahve wieder aufrichtet. Das ist der “Messias”: jeder moderne Souverän hätte der Sehnsucht der Propheten genug gethan, vielleicht zu sehr selbst: wie man fürchten muß ...
Aber es erfüllte sich Nichts. Man hatte die Wahl, seinen alten Gott aufzugeben oder aus ihm etwas Anderes zu machen. Letzteres thaten z.B. Elias und Amos: sie zerschnitten das Band, genauer die Einheit von Volk und Gott; sie trennten nicht nur, sondern sie hoben die eine Seite hoch empor und drückten die andere herab: sie concipirten ein neues Verhältniß zwischen beiden Theilen, ein Versöhnungsverhältniß. Jahve war bisher der Gott Israels und folglich Gott der Gerechtigkeit: jetzt wurde er zuerst und -oberst der Gott der Gerechtigkeit und, abseits davon erst, der Gott Israels. Die Thora Jahves, ursprünglich wie all sein Thun ein Helfen, ein Rechtschaffen, Wegweisen, Lösen verwickelter Probleme wurde Inbegriff seiner Forderungen, von denen seine Beziehung zu Israel abhieng.
Ein Gesetz wurde dadurch rechtskräftig, daß die, denen es galt, sich verpflichteten, es zu halten. “Vertrag” für Gesetz. Ursprünglich hatten die verschiedenen Vertreter des Volkes sich verpflichtet zur Haltung des “Gesetzes,” jetzt sollen Jahve und Israel die Contrahenten sein ... Seit dem feierlichen Akt, durch den Josia das Gesetz einführte, trat die Idee der Bundschließung zwischen Jahve und Israel in die Mitte der religiösen Reflexion. Das babylonische wie das assyrische Exil hat beigetragen, daß man sich mit der Idee der Bedingtheit, der eventuellen Lösung vertraut machte.
Der Untergang des Reichs gab den schwärmerischen Phantasien freien Lauf: das Gegensatz-Gefühl gegen den ganzen Rest breitet sich aus: seit dem Exil wird von einer allgemeinen Vereinigung aller Völker gegen das “neue Jerusalem” phantasirt. Früher war der nationale Staat der höchste Wunsch, jetzt wird von einer universalen Weltherrschaft geträumt, welche über den Trümmern der heidnischen Reiche sich in Jerusalem erheben sollte.
Die Gefahr war, daß die jüdischen Exulanten, wie vorher die samarischen, von den Heiden absorbirt würden. Man organisirt nun den heiligen Rest, damit er übrig bleibt, als Träger der Verheißung und die Stürme der Zwischenzeit überdauert ...
Gleichberechtigung der contrahirenden Theile nicht wesentlich: das Wort berith auch von der Capitulation, deren Bedingungen der stärkere auflegt —
Fortsetzung: Wellhausen.
Worauf hin konnte man organisiren? Die Wiedererrichtung eines wirklichen Staates war unmöglich; die Fremdherrschaft ließ eine solche nicht zu. Da zeigte sich die Wichtigkeit der Institutionen.
Das alte Gemeinwesen der Königszeit stand bei den Männern der Restauration in schlimmem Rufe: ersichtlich war es durch Jahve verworfen ... Man erinnerte sich an die Propheten, welche sagten, Festungen, Rosse, Kriegsleute, Könige, Fürsten—das hilft Alles nichts ...
Der jüdische Reichstempel in Jerusalem—unter dem Schatten des Königthums waren die Priester von Jerusalem groß geworden. Je schwächer der Staat, je höher das Ansehen des Tempels, desto selbstständiger die Macht der Priesterschaft. Aufschwung des Cultus im siebenten Jahrhundert, Einführung kostspieligen Materials z.B. Weihrauchs, Bevorzugung der schweren Leistungen (Kinder- und Sühnopfer) Blutiger Ernst in der Ausübung des Gottesdienstes
Als das Reich zusammenbrach, waren im Stand der Priester die Elemente vorhanden zur Organisirung der “Gemeinde.” Die Bräuche und Ordnungen waren in der Hauptsache da: sie wurden systematisirt, als Mittel zur Herstellung einer Organisation des Restes ...
Die “heilige Verfassung des Judenthums”: das Kunstprodukt ... Israel darauf reduzirt, ein “Reich von Priestern und ein heiliges Volk zu sein.” Früher hatte die natürliche Ordnung der Gesellschaft ihren Halt im Gottesglauben; jetzt sollte der Gottesstaat sichtbar dargestellt werden in einer künstlichen Sphäre, jedenfalls im gewöhnlichen Volksleben. Die Idee, die früher die Natur durchdrang, sollte jetzt einen eigenen heiligen Körper haben. Ein äußerlicher Gegensatz von Heilig und Profan entstand, man gränzte ab, man drängte das Naturgebiet immer weiter zurück ... (Ressentiment thätig—) Die Heiligkeit, leer, antithetisch, wird der regierende Begriff: ursprünglich = göttlich, jetzt gleich priesterlich, geistlich,—als sei das Göttliche dem Weltlichen, Natürlichen durch äußere Merkmale entgegengesetzt —
Hierocratie ... unter ungünstigen Bedingungen mit ewig staunenswürdiger Energie durchgesetztes Kunstprodukt, unpolitisch: die mosaische Theokratie, das residuum eines untergegangenen Staates—sie hat die Fremdherrschaft zur Voraussetzung. Nächstverwandt mit der altkatholischen Kirche, in der That deren Mutter ...
Worin der Rückschritt lag. Jahves Gesetz bedeutete die jüdische Eigenthümlichkeit im Gegensatz zu den Heiden. Diese lag in Wahrheit nicht im Cultus: man kann zwischen griechischen und hebräischen Riten keine wesentliche Differenz ausfindig machen. Der Cultus ist das Heidnische in der Religion Israels: im Priestercodex wird er die Hauptsache. Ist das nicht ein Rückschritt ins Heidenthum?—es ist das, was die Propheten am Gründlichsten bekämpft haben.— Ebenfalls: der Cultus ist durch die Priestergesetzgebung seinem eignen Wesen entfremdet und in sich überwunden. Die Feste haben alle Erinnerung an Ernte und Viehzucht verloren, sie sind zu historischen Erinnerungstagen geworden; sie verleugnen ihre Herkunft aus der Natur, sie feiern die Stiftung einer übernatürlichen Religion und der Gnadenthaten Jahve’s. Das allgemein Menschliche, das Freiwüchsige geht davon, sie werden statutarisch und spezifisch israelitisch ... Sie ziehen nicht mehr die Gottheit ins irdische Leben, daß sie an dessen Freud und Leid theilnehme, sie sind keine Versuche mehr, ihr etwas zu Gute zu thun und sie gnädig zu stimmen. Nichts als göttliche Gnadenmittel, die Jahve, als Sakramente der Hierarchie, eingesetzt hat. Sie gründen sich nicht auf den inneren Werth der Sache, auf frische Anlässe, sondern auf den peinlich-genauen Befehl eines unmotivirten Willens. Das Band zwischen Cult und Sinnlichkeit zerschnitten. Der Cult eine übung der Gottseligkeit; keine natürliche sondern nur eine transscendente, unvergleichliche und unangebbare Bedeutung. Seine Hauptwirkung die Sühne. Seit dem Exil ist das Sündenbewußtsein permanent; Israel von Gottes Angesicht verworfen ...
Das Werthvolle in den Darbringungen nicht in ihnen selbst, sondern im Gehorsam gegen Vorschriften; das Schwergewicht des Cultus in ein ihm fremdes Reich, die Moral verlegt. Opfer und Gaben treten zurück hinter asketischen Leistungen, die mit der Moral in noch einfacherer Verbindung stehen. Vorschriften, die ursprünglich größtentheils die Heiligung der Priester zu gottesdienstlichen Funktionen im Auge hatten, wurden auf die Laien ausgedehnt; die Beobachtung der Gebote der leiblichen Reinigkeit war von größerer durchgreifender Bedeutung als der große öffentliche Cultus und führte auf geradem Wege zum Ideal der Heiligkeit und des allgemeinen Priesterthums. Das ganze Leben ward in eine heilige Bahn eingeengt, indem stets ein göttliches Gebot zu erfüllen war. das hielt ab, den eigenen Gedanken und Herzenswünschen nachzuschweifen. Dieser kleine, fortwährend in Anspruch nehmende Privatcultus hielt das Gefühl der Sünde im Einzelnen wach und rege.
Der große Patholog des Judenthums hat Recht: der Cultus ist zum Zuchtmittel geworden. Dem Herzen ist er fremd: er wurzelt nicht mehr im naiven Sinn: er ist todtes Werk, trotz aller Wichtigkeit, oder gerade wegen der Peinlichkeit und Gewissenhaftigkeit. Die alten Bräuche sind zu einem System zusammengeflickt, zu einem System, das als Form, als harte Schale diente, um Edleres darin zu retten. Das Heidenthum auf seinem eigenen Gebiete, im Cult überwunden: der Cultus ist, nachdem die Natur darin ertödtet war, bloß der Panzer eines übernatürlichen Monotheismus — Schluss