November 1887 - März 1888 11 [301-417]
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Zur Kritik des guten Menschen
Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen—sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selber willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich werthindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgend welchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Werth bekommen?— Liegt der Werth dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vortheil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)?
Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurtheilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, “Menschheit,” derentwegen diese Eigenschaften Werth haben sollen: oder ob sie an sich selbst Werth haben ...
Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurtheilen, bekämpfen, verneinen heißt (—unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit—)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Consequenz solcher Eigenschaften verurtheilt?
Anders gesagt: wäre es wünschbar, daß Menschen dieser zweiten Eigenschaften nicht existirten?— Das wird jedenfalls geglaubt —
aber hier steckt der Irrthum, die Kurzsichtigkeit, die Bornirtheit des Winkel-Egoismus.
Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vortheil auf Seiten der Rechtschaffenen ist—so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmuthigt würden und langsam ausstürben?
— dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Aesthetik: wäre es wünschbar, daß die “achtbarste” d.h. langweiligste Species Mensch übrig bliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die “Hornochsen”?
— denkt man sich die ungeheure überfülle der “Anderen” weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nöthig—und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat.
Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der “rechtschaffene Mensch” in die bescheidene Stellung eines “nützlichen Werkzeugs” herabgedrückt wird—als das “ideale Heerdenthier,” bestenfalls Heerden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt—: welche andere Eigenschaften verlangt —