November 1887 - März 1888 11 [301-417]
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Die Conception der Welt, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordenen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und scheinbaren Welt: es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn ... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt ... Wir haben Lüge nöthig, um über diese Realität, diese “Wahrheit” zum Sieg zu kommen das heißt, um zu leben ... Daß die Lüge nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins ...
Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft—sie werden in diesem Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hülfe wird ans Leben geglaubt. “Das Leben soll Vertrauen einflößen”: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch von Natur schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch Künstler sein ... Und er ist es auch: Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft—Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der “Wahrheit,” zur Verneinung der “Wahrheit.” Dies Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen par excellence des Menschen—er hat es noch mit Allem, was ist, gemein: er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur—er selbst ist auch ein Stück Genie der Lüge ...
Daß der Charakter des Daseins verkannt wird—tiefste und höchste Geheim-Absicht [der] Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlerschaft. Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn ... Oh wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, “Gott”—lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrogenen wird, wo er wieder ans Leben glaubt, wo er sich überlistet hat: oh wie schwillt es da ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl der Macht! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! ... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den “Stoff”—Herr über die Wahrheit! ... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht. Die Lüge ist die Macht ...
Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum Leben ...