November 1887 - März 1888 11 [301-417]
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Meine Theorie vom Typus Jesu.
Der Typus des “Erlösers” verdorben, ja zerstört ...
Ursachen: das geistige Niveau, in dem sich fortwährend Alles vergröbert, verstellt, verschiebt, die absolute Blindheit gegen sich selbst (—hier ist noch nicht einmal der Anfang der Selbsterkenntniß gemacht—), die ungeheure Unbedenklichkeit aller Sektirer, sich ihres Meisters wie ihrer Apologie zu bedienen ... der Verbrecher-Tod Christi als Räthsel ...
Es wird im Typus rückständig sein: die Crudität des Geistes: man wandelt nicht ungestraft unter Fischern
: die falsche Generalisirung zum Allerwelts-Typus des Wundermanns, Propheten, Messias —
: die nachträgliche Geschichte und Psychologie der jungen Gemeinde, welche ihre stärksten Affekte in das Bild ihres Meisters eintrug —
: die kranke ausschweifende Gefühlsamkeit und Verwöhnung statt aller Vernunft: so daß die Instinkte sofort wieder Herr werden—es ist nicht die kleinste Spur von Geistigkeit, von Zucht und Strenge im Geistigen, von Gewissenhaftigkeit.
Wie Schade, daß nicht ein Dostoiewsky unter dieser Gesellschaft war: in der That gehört die ganze Geschichte am besten in einen russischen Roman—Krankhaftes, Rührendes, einzelne Züge sublimer Fremdheit, mitten unter Wüstem und Schmutzig-Pöbelhaftem .. (wie Maria von Magdala
Erst der Tod, der unerwartete schmähliche Tod, erst das Kreuz, das im Allgemeinen der Canaille aufgespart blieb,—erst diese schauerlichste Paradoxie brachte die Jünger vor das eigentliche Räthsel: “wer war das?,” “was war das?”
Das erschütterte und im Tiefsten beleidigte Gefühl, der Argwohn, es möchte ein solcher Tod die Widerlegung einer Sache sein, das schreckliche Fragezeichen “warum so?”—denn hier mußte Alles nothwendig sein, Sinn, Vernunft, höchste Vernunft haben—: die Liebe eines Jüngers kennt keinen Zufall:
erst jetzt trat die Kluft auseinander: “wer hat ihn getödtet?” “wer war der natürliche Feind?” Antwort: das herrschende Judenthum, sein erster Stand
— Man empfand sich selbst im Aufruhr gegen die “Ordnung”
— man verstand hinterdrein Jesus als im Aufruhr gegen die Ordnung
Bis dahin fehlte dieser kriegerische Zug in Jesus: mehr noch, er war unmöglich bei seiner Denkart. Praktisch war auch sein Verhalten bei der Verurtheilung und dem Tod wohl das ganze Gegen[theil]: er widersteht nicht, er vertheidigt sich nicht, er bittet für sie. Die Worte an den Schächer am Kreuz heißen nichts anders: wenn du fühlst, daß das das Rechte ist, nicht-sich-wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen, vielmehr leiden, mitleiden, vergeben, beten für die, welche uns verfolgen und tödten: nun, so hast du das Eine, was noth thut, den Frieden der Seele—so bist du im Paradiese —
Offenbar verstand man gerade die Hauptsache nicht: das Vorbild von dieser Freiheit von allem Ressentiment:
wieder hat ja der Tod Christi keinen Sinn als das stärkste Vorbild und die stärkste Erprobung seiner Lehre zu sein ...
Seine Jünger waren alle fern davon, diesen Tod zu verzeihen: das am meisten unevangelische Gefühl, die Rache kam obenauf ...
Unmöglich konnte die Sache zu Ende sein: man brauchte eine “Vergeltung,” ein “Gericht” (—und nichts ist weniger evangelisch als Lohn und Strafe!)
Jetzt erst kamen die populären Erwartungen eines Messias wieder in den Vordergrund: einen historischen Augenblick erwartend, wo “der Richter” zu Gericht kommt über seine Feinde ...
: jetzt erst mißverstand man das Kommen des “Reichs Gottes” wie als Prophezeiung über einen Schlußakt der Geschichte
: jetzt erst trug man die ganze Verachtung und Bitterkeit gegen die Pharisäer und Theologen hinein in den Typus des Meisters
: man verstand nicht die Hauptsache: daß eben ein solcher Tod selbst der höchste Sieg über die “Welt” war (über die Gefühle von Feindschaft, Rache usw.)—über das Böse, über den Bösen, dies immer nur als innerliche psychologische Realität verstanden
: die Verehrung dieser ganz aus dem Gleichgewicht gerathenen Seelen hielt es nicht aus, jene gültige Gleichberechtigung von Jedermann zum “Sohn Gottes,” wie sie Jesus gelehrt hatte, zu glauben: ihre Rache war, auf eine ausschweifende Manier Jesus emporzuheben (—ganz so wie die Juden die Rolle von Israel in die Höhe gehoben hatten, wie als ob der ganze Rest Welt sein Feind sei. Ursprung der absurden Theologie von Einem Gott und seinem Einen Sohn —
Problem “wie konnte Gott das zulassen?” Darauf fand man die absurde Antwort “er gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer.” Wie war Alles mißverstanden!!! Nichts ist unevangelischer als das Schuldopfer und gar das des Unschuldigen für die Sünden des Schuldigen;
: aber Jesus hatte ja die Sünde abgeschafft!—nicht durch den “Glauben,” sondern durch das Gefühl der Göttlichkeit, Gottgleichheit.
Es tritt in den Typus hinein:
a) die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft
b) die Lehre vom Tode als Opfer
c) die Lehre von der Auferstehung: wodurch die ganze “Seligkeit,” der ganze Sinn des Evangeliums auf einmal eskamotirt wird zu Gunsten eines Zustandes—“nach dem Tode” ...
Paulus, mit rabbinischer Frechheit diese Auffassung logisirend: “wenn Christus nicht auferstanden ist von den Todten, so ist unser Glaube eitel”
: zuletzt gar noch die “Unsterblichkeit der Person”
Und so hatte man in der zweiten Generation nach Jesus bereits alles das als christlich, was am tiefsten den evangelischen Instinkten zuwider ging
das Opfer, sogar das Blutopfer, als Erstlingsopfer
Strafe, Lohn, Gericht ...
ein Auseinanderhalten von Diesseits und Jenseits, von Zeit und Ewigkeit
eine Theologie statt einer Praxis, ein “Glaube” statt einer Lebensweise
eine tiefe und tödtliche Feindseligkeit gegen alles Nichtchristliche
die ganze Nothlage des Missionars hat sich in die Lehre Jesus hineingetragen: alle die harten und bösen Dinge, gegen die, welche seine Missionare nicht annehmen, sollen jetzt vom Meister schon proklamirt sein
nachdem einmal in der Hauptsache Gericht, Strafe, Lohn wieder acceptirt waren, wurde die ganze Lehre und Sprüchwortweisheit Jesus damit durchtränkt ...