Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Was ist tragisch.
Ich habe zu wiederholten Malen den Finger auf das große Mißverständniß des Aristoteles gelegt, als er in zwei deprimirenden Affekten, im Schrecken und im Mitleiden, die tragischen Affekte zu erkennen glaubte. Hätte er Recht, so wäre die Tragödie eine lebensgefährliche Kunst: man müßte vor ihr wie vor etwas Gemeinschädlichem und Anrüchigem warnen. Die Kunst, sonst das große Stimulans des Lebens, ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben, würde hier, im Dienste einer Abwärtsbewegung, gleichsam als Dienerin des Pessimismus, gesundheitsschädlich. (Denn daß man durch Erregung dieser Affekte sich von ihnen “purgirt”, wie Aristoteles zu glauben scheint, ist einfach nicht wahr) Etwas, was habituell Schrecken oder Mitleid erregt, desorganisirt, schwächt, entmuthigt:—und gesetzt, Schopenhauer behielte Recht, daß man der Tragödie die Resignation zu entnehmen habe d.h. eine sanfte Verzichtleistung auf Glück, auf Hoffnung, auf Willen zum Leben, so wäre hiermit eine Kunst concipirt, in der die Kunst sich selbst verneint. Tragödie bedeutete dann einen Auflösungs-prozeß, die Instinkte des Lebens sich im Instinkt der Kunst selbst zerstörend. Christenthum, Nihilismus, tragische Kunst, physiologische décadence: das hielte sich an den Händen, das käme zur selben Stunde zum Übergewicht, das triebe sich gegenseitig vorwärts—abwärts! ... Tragödie wäre ein Symptom des Verfalls.
Man kann diese Theorie in der kaltblütigsten Weise widerlegen: nämlich indem man vermöge des Dynamometers die Wirkung einer tragischen Emotion mißt. Und man bekommt als Ergebniß, was psychologisch zuletzt nur die absolute Verlogenheit eines Systematikers verkennen kann—: daß die Tragödie ein tonicum ist. Wenn Schopenhauer hier nicht begreifen wollte, wenn er die Gesammt-Depression als tragischen Zustand ansetzt, wenn er den Griechen (—die zu seinem Verdruß nicht “resignirten” ...) zu verstehen gab, sie hätten sich nicht auf der Höhe der Weltanschauung befunden: so ist das parti pris, Logik des Systems, Falschmünzerei des Systematikers: eine jener schlimmen Falschmünzereien welche Sch[openhauern] Schritt für Schritt seine ganze Psychologie verdorben hat (: er, der das Genie, die Kunst selbst, die Moral, die heidnische Religion, die Schönheit, die Erkenntniß und ungefähr Alles willkürlich-gewaltsam mißverstanden hat
Aristote[les]
Aristoteles wollte die Tragödie als Purgativ von Mitleid und Schrecken betrachtet wissen,—als eine nützliche Entladung von zwei unmäßig aufgestauten krankhaften Affekten ...
Die anderen Affekte wirken tonisch: aber nur zwei depressive Affekte—und diese sind folglich besonders nachtheilige und ungesunde—das Mitleiden und der Schrecken sollten nach Aristoteles durch die Tragödie wie durch ein Purgativ aus dem Menschen hinausgeschafft werden: die Tragödie indem sie diese gefährlichen Zustände im Übermaß erregt, erlöst den Menschen davon—macht ihn besser. Die Tragödie als eine Cur gegen das Mitleid.