Frühjahr 1888 15 [1-120]
15 [71]
Wie die Tugend zur Macht kommt
Die Priester—und mit ihnen die Halbpriester, die Philosophen—haben zu allen Zeiten eine Lehre Wahrheit genannt, deren erzieherische Wirkung wohlthätig war oder wohlthätig schien—die “besserte”. Sie gleichen damit einem naiven Heilkünstler und Wundermann aus dem Volke, der, weil er ein Gift als Heilmittel erprobt hat, es verleugnet, daß dasselbe ein Gift ist ... “An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen”—nämlich unsere “Wahrheiten”: das ist das Priester-Raisonnement bis heute noch. Sie haben selbst verhängnißvoll genug ihren Scharfsinn dahin verschwendet, dem “Beweis der Kraft” (oder “aus den Früchten”) den Vorrang, ja die Entscheidung über alle Formen des Beweises zu geben. “Was gut macht, muß gut sein; was gut ist, kann nicht lügen”—so schließen sie unerbittlich—: “was gute Früchte trägt, das muß folglich wahr sein: es giebt kein anderes Kriterium der Wahrheit” ...
Sofern aber das “Besser-machen” als Argument gilt, muß das Schlechter-machen als Widerlegung gelten. Man beweist den Irrthum damit als Irrthum, daß man das Leben derer prüft, die ihn vertreten: ein Fehltritt, ein Laster widerlegt ... Diese unanständigste Art der Gegnerschaft, die von Hinten und Unten, die Hunde-Art, ist insgleichen niemals ausgestorben: die Priester, sofern sie Psychologen sind, haben nie etwas interessanter gefunden, als an den Heimlichkeiten ihrer Gegner zu schnüffeln.— Dies allein macht ihre Optik der Welt-Kenntniß:—sie beweisen damit ihr Christenthum, daß sie bei der “Welt” nach Schmutz suchen. Voran bei den Ersten der Welt, bei den “Genies”: man erinnere sich, wie jeder Zeit in Deutschland gegen Goethe angekämpft worden ist (: Klopstock und Herder giengen hierin mit “gutem Beispiel” voran—Art läßt nicht von Art.) [Vgl. Victor Hehn, Gedanken über Goethe. 1. Teil. Zweite verbesserte Auflage. Berlin: Gebrüder Borntraeger, 1888.]