Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Vom Asketismus der Starken.
Aufgabe dieses Ascetismus, der nur eine Durchgangs-Schulung ist, kein Ziel: sich frei machen von den alten Gefühls-Impulsen der überlieferten Werthe. Schritt für Schritt seinen Weg gehen lernen zum “Jenseits von Gut und Böse”.
| Erste Stufe: | Atrocitäten aushalten |
| Atrocitäten thun |
| Zweite Stufe, die schwerere: | Miserabilitäten aushalten |
| Miserabilitäten thun: eingerechnet als | |
| Vorübung: lächerlich werden | |
| sich lächerlich machen. |
— Die Verachtung herausfordern und durch ein (unerrathbares) Lächeln aus der Höhe die Distanz trotzdem festhalten
— eine Anzahl Verbrechen, welche erniedrigen, auf sich nehmen, z.B. Gelddiebstahl, um sein Gleichgewicht auf die Probe zu stellen
eine Zeitlang nichts thun, reden, erstreben, was nicht Furcht oder Verachtung erregt, was nicht die Anständigen und Tugendhaften nothwendig in Kriegszustand versetzt,—was nicht ausschließt ...
das Gegentheil davon darstellen, was man ist (und besser noch: nicht gerade das Gegentheil, sondern bloß ein Anderssein: letzteres ist schwerer)
— auf jedem Seile gehn, auf jeder Möglichkeit tanzen: sein Genie in die Füße bekommen
— seine Ziele zeitweilig durch seine Mittel verleugnen,—selbst verleumden
— ein für alle Mal einen Charakter darstellen, der es verbirgt, daß man fünf sechs andere hat
— sich vor den fünf schlimmen Dingen nicht fürchten, der Feigheit, dem schlechten Ruf, dem Laster, der Lüge, dem Weibe —
Sprüche eines Hyperboreers.
Wir Hyperboreer, wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. “Weder zu Wasser, noch zu Lande kannst du den Weg zu den Hyperboreern finden”: das hat Pindar schon von uns gewußt.
Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes—unser Leben! unser Glück! ...
Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld.
Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich—weiß ...
Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur,—von seiner Geistigkeit ...
Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen?
Wir mißtrauen allen Systematikern, wir gehen ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist, für uns Denker wenigstens, etwas, das compromittirt, eine Form der Unmoralität.
Das Weib, das ewig Weibliche: ein bloß imaginärer Werth, an den allein der Mann glaubt.
Der Mann hat das Weib geschaffen—woraus doch? Aus einer Rippe seines Gottes, seines “Ideals” ...
Man hält das Weib für tief—warum? Weil man nie bei ihr auf den Grund kommt. Aber das Weib hat gar keinen Grund: Es ist das Faß der Danaiden.
Das Weib ist noch nicht einmal flach.
Wer am besten lacht, der lacht auch zuletzt.
“Um allein zu leben, muß man ein Tier oder ein Gott sein”—sagt Aristoteles. [Vgl. Alfred Fouillée, La science sociale contemporaine. Paris: Hachette, 1880:390.] Beweisen wir, daß man Beides sein muß ...
Müßiggang ist aller Philosophie Anfang. Folglich—ist Philosophie ein Laster?
Wie wenig gehört zum Glück! Der Ton eines Dudelsacks ... Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum.
Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! Daß man sie nicht hinterdrein in Stich läßt!—Der Gewissensbiß ist unanständig.
Die Ehe hat die längste Zeit das schlechte Gewissen gegen sich gehabt. Sollte man’s glauben?— Ja, man soll es glauben.
Alles, womit der Mensch nicht fertig zu werden weiß, Alles, was kein Mensch noch verdaut hat, der Koth des Daseins—war er bisher nicht unser bester Dünger? ...
Von Zeit zu Zeit eine Dummheit—oh wie einem sofort wieder die eigne Weisheit schmeckt!
Man muß Muth im Leibe haben, um sich eine Schlechtigkeit zu gestatten. Die “Guten” sind zu feige dazu.
Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen die Weiblein.
Was uns nicht umbringt—das bringen wir um, das macht uns stärker. Il faut tuer le Wagnerisme.
“Das waren Stufen für mich. Ich bin über sie hinaufgestiegen. Dazu mußte ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen”.
“Alle Wahrheit ist einfach”: das ist eine zwiefache Lüge.
Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht “wahr”. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins, noch auch nur reduzirbar auf Eins.
Kann ein Packesel tragisch sein?— Daß man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann? ...
Unter Weibern.— “Die Wahrheit? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht! ... Ist sie nicht ein Attentat auf alle unsere pudeurs?”
“Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches—so spricht uns die Gerechtigkeit. Und was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen.”
Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein: das heißt, er glaubt, daß ein Sinn bereits drin ist.
Der große Stil tritt auf in Folge der großen Leidenschaft. Er verschmäht es, zu gefallen, er vergißt es, zu überreden. Er befiehlt. Er will.
Künstler, wie sie zu sein pflegen, wenn sie ächt sind, bescheiden in ihren Bedürfnissen: sie wollen eigentlich nur Zweierlei ihr Brod und ihre Kunst—panem et Circen ...
Die posthumen Menschen werden schlechter verstanden, aber besser gehört als die zeitgemäßen. Oder, strenger: sie werden nie verstanden—und eben daher ihre Autorität!
Der gute Geschmack in psychologicis: wenn alle Moral-Maskerade unserer Natürlichkeit uns Widerstand macht, wenn auch im Seelischen nur die nackte Natur gefällt.
Man soll nicht unbescheiden sein: wählt man die Tugend und den gehobenen Busen, so soll man nicht auch zugleich die Vortheile der Langfinger haben wollen.
Die Tugend bleibt das kostspieligste Laster: sie soll es bleiben!
Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger als seinen Vortheil.
Die Krankheit ist ein mächtiges Stimulans. Nur muß man gesund genug für das Stimulans sein.
Der vornehme Geschmack zieht auch der Erkenntniß Grenzen. Er will, Ein für alle Mal, Vieles nicht wissen.
Was ist Keuschheit am Mann? Daß sein Geschlechts-Geschmack vornehm geblieben ist; daß er in eroticis weder das Brutale, noch das Krankhafte, noch das Kluge mag.
Hat man sein Warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie? Der Mensch strebt nicht nach Glück, wie die Engländer glauben. —
Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich thue, man sieht es, das Gegentheil: jeder Schritt weg von ihr führt—so lehre ich—ins Unmoralische ...
Unsere heiligsten Überzeugungen, unser Unwandelbares in Hinsicht auf oberste Werthe sind Urtheile unsrer Muskeln.
“Weißt du noch nicht, was man nöthig hat, um seine Kraft zu verzehnfachen?”—Anhänger?— Nullen!!
— Und wie Jeder, der zu viel Recht hat, mache ich mir nichts daraus, Recht zu behalten. (Schluss der Vorrede)